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Unternehmen: Zukunft ärgere dich nicht!

31. Mai 2023, 16:03

Mit Beidhändigkeit in das Spiel der Zukünfte – wie Unternehmen erfolgreich innovieren. Ein Plädoyer für den Homo Ludens von Dr. Maximilian Lude.

Der Homo Ludens, der spielende Mensch, ist ein Modell, das davon ausgeht, dass sich der Mensch seine kulturellen Fähigkeiten über das Spielen beibringt. Wichtige Grundkenntnisse und menschliche Mechanismen werden also schon im frühkindlichen Alter spielerisch erlernt – eben genau dann, wenn das Neue noch als nahezu unmöglich eingestuft wird. Und doch, Schritt für Schritt entwickeln wir uns und werden zu mündigen, fähigen Individuen. Dabei geht es auch besonders darum, das Relevante vom Trivialen zu unterscheiden, ersteres zu vertiefen und letzteres eher ungeachtet zu lassen. Komplexitätsreduktion durch spielerisches Lernen also. Diese Fähigkeit ist womöglich genau das, was für Unternehmen und ihre Akteure in der heutigen, immer schneller werdenden Welt essenziell ist. Nachfolgend ein paar Fakten zum Thema Geschwindigkit anhand einer kleinen Anekdote.
2014 brachte Apple seine erste AppleWatch auf den Markt. Ein Technologieunternehmen also, das sich auf dem Uhrenmarkt behaupten will und sein Glück unter Schweizer Branchengrößen versucht. Kaum hätte man sich damals ausmalen können, dass Apple knapp zehn Jahre später in Summe mehr Uhren verkauft als die komplette Schweizer Uhrenindustrie (siehe Strategy Analytics, 2020). Im Übrigen gab es vor zehn Jahren auch noch kein TikTok, geschweige denn generative künstliche Intelligenzen wie ChatGPT. Und heute hat TikTok über eine Milliarde aktive Nutzer und ChatGPT hat nur knapp zwei Monate benötigt, um auf 100 Millionen aktive Nutzer zu kommen. Spotify beispielsweise hat hierfür 55 Monate gebraucht.
Die zunehmende, kaum zu bremsende Geschwindigkeit hinsichtlich technologischer Entwicklungen zwingt uns und unser ökonomisches Ökosystem in die extreme Anpassungs- und Filterfähigkeit. Wir leben und arbeiten in einer Welt, die sich exponentiell entwickelt (siehe Grafik). Um dem exponentiellen Überraschungsfaktor in der Zukunft voraus zu sein, ist es ratsam, das Singuläre im Begriff Zukunft zu streichen und sich fortan mit Zukünften, also dem Plural, zu beschäftigen. Das mag kontraintuitiv klingen, dennoch machen uns die aktuellen globalen Entwicklungen mehr als deutlich, dass die eine Zukunft kaum antizipierbar ist. Es geht viel mehr darum, sich als Individuum, aber auch als Unternehmen, auf mehrere, mögliche Zukünfte vorzubereiten und sich strukturiert und intensiv mit diversen Szenarien zu beschäftigen. Denn wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, lauert der nächste externe Schock bereits um die Ecke.
Das soll keinesfalls schwarzmalerisch klingen. Es geht schlichtweg um zwei Fähigkeiten: Kontextkompetenz und organisationale Ambidextrie.

Rückblick ins Jahr 1986

Protestierende und demonstrierende Mathematiklehrer ziehen durch die Straßen der USA. Sie erheben ihre Stimmen nicht etwa für mehr Gleichheit in der Bildung oder höhere Löhne in Lehrberufen, nein – sie protestieren gegen den Einsatz von Taschenrechnern (The Washington Post, 1986). Diese kamen wenige Jahre zuvor als Massenware auf den Markt und sollten nun auch im Schulunterricht eingesetzt werden dürfen. Ein neues Werkzeug sollte den Kontext des Lernens verändern und anstatt einen Mehrwert darin zu erkennen, wurde mit Skepsis reagiert und mit Nachdruck dagegen argumentiert. Wenn man den Protestierenden damals gesagt hätte, dass ab der Jahrtausendwende die Absatzzahlen von handelsüblichen Taschenrechnern stetig zurückgehen würden, da mittlerweile natürlich jedes Smartphone ebenso gut rechnen konnte – sie hätten sich den Ärger ersparen können. Doch so oder so sollte uns diese Geschichte lehren: Neue Technologien kommen, und sie kommen in immer kürzer werdenden Innovationszyklen. Die damals protestierenden Lehrer hielten Schilder mit den Worten „The Button‘s Nothin‘ Til the Brain‘s Trained“ in die Höhe. 37 Jahre nach diesen Protesten gibt es ähnliche Ängste mit einem neuen Tool – generative künstliche Intelligenz in all seinen Facetten.

Um den Satz von 1986 nochmals aufzugreifen, könnte man behaupten „The Button’s powerfull, so never stop train your brain to use the Button“. Das heißt, Kollegen und Kolleginnen in Unternehmen sollten ausgebildet werden, diese Tools zu nutzen, zu testen und sie zu erleben. Alles andere würde zu einer digitalen Spaltung führen. Kontextkompetenz, wie es der österreichische Publizist und Autor Wolf Lotter bezeichnet, ist also die Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen – dann wäre auch die steigende Komplexität kein Problem – und die Verbindung von Alt und Neu, von Tradition und Innovation ebenso wenig.

Aus Alt mach Neu

Ein Paradebeispiel für diese Fähigkeit lieferte der Europapark Rust. Der „Alpenexpress“ wurde den gesteigerten Ansprüchen der Besucher*innen nach höher, schneller, krasser nicht mehr gerecht und immer weniger frequentiert. Daher entschied man sich, die Mitfahrenden mit einer Virtual Reality-Brille auszustatten, um sie während der Fahrt in eine virtuelle Realität eintauchen zu lassen. Sie reiten auf Drachen über den Park oder fliegen durch dunkle Grotten – die Kurven, Fliehkräfte und den Fahrtwind spürt man natürlich trotzdem noch. Die perfekte Immersion war geschaffen und innerhalb kürzester Zeit wurde die etwas in die Jahre gekommene Achterbahn zur meistbesuchten Attraktion des Parks. Heute hat der Europapark das Konzept der „Coastiality“ in unterschiedlichsten Ausführungen implementiert und vertreibt es sogar extern in anderen Freizeitparks in ganz Europa.
Auf den ersten Blick mag so etwas im eigenen Unternehmen vielleicht unmöglich erscheinen, aber hier sei an den Homo Ludens erinnert, den spielenden Menschen.

Die Devise heißt, Zukunft, ärgere dich nicht – erlernen wir sie spielerisch!

Allerdings ist vor Beginn des Spiels eine wichtige Frage zu klären: Worin ist man als Unternehmen richtig gut? Denn wenn Unternehmen diese Frage beantworten, werden sie unweigerlich ihre Kernkompetenzen analysieren müssen. Um der immer schneller werdenden Welt gerecht zu werden, geht es nicht darum, das bestehende Geschäftsmodell über den Haufen zu werfen – im Europapark beispielsweise gibt es noch unzählige Freizeitangebote, die ganz ohne eine virtuelle Prothese auskommen – sondern vielmehr darum, es weiterzuentwickeln und zu stärken, während neue Geschäftsmodelle erschlossen werden. Diese essenzielle Kombination beziehungsweise Balance aus der Weiterentwicklung des Kerngeschäfts und der kontinuierlichen Suche nach neuen Opportunitäten und Geschäftsmodellen nennt sich organisationale Ambidextrie, was in etwa mit Beidhändigkeit übersetzt werden kann. Sinnbildlich ließe sich dies mit einer Handballerin oder einem Handballer vergleichen, die sowohl mit dem linken als auch dem rechten Arm ein Tor werfen können und damit ein Wettbewerbsvorteil haben. Organisa-tionen und Unternehmen sollten ebenfalls beide Hände einsetzen.
Das bedeutet: Die eine Hand in der Ambidextrie befasst sich mit der Exploitation, der immerwährenden Weiterentwicklung des bereits bestehenden Kerngeschäfts und der Vertiefung der eigenen Kernkompetenzen. Dabei ist es besonders wichtig, die Mitarbeitenden zu unternehmerischem Denken zu inspirieren und sich fortwährend weiterzuentwickeln. Die zweite Hand steht für die Exploration, der kontinuierlichen Suche nach neuen Geschäftsmodellen und der Identifikation von neuen Opportunitäten – mit Nähe oder Distanz zum bestehenden Geschäftsmodell. Auch hier muss das Rad nicht neu erfunden werden, ganz im Gegenteil: Das Bestehende, die Tradition eines Unternehmens kann essenziell für dieses Vorhaben sein.
Das Familienunternehmen Edding beispielsweise hat sich möglicherweise auch die Frage gestellt, worin es richtig gut ist und die Antwort war nicht etwa Stifte zu produzieren oder sich besonders bunte Farben auszudenken, sondern höchstwahrscheinlich permanente Tinte. Und auf welchem wachsenden, erstaunlich krisenfesten Markt braucht man dauerhafte Tinte? In der Tattoo-Industrie. Seit 2020 stellt Edding also eigene Tattoofarben her und eröffnete sogar ein eigenes Studio in Hamburg. Ein spannendes Beispiel für eine Exploration also.
Doch wie treibt man Exploration im Unternehmen erfolgsversprechend voran? Darauf gibt es so viele Antworten wie Würfelkombinationen bei Kniffel. Eine davon soll an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden: Man muss mit den Kunden und Kundinnen sprechen! Wenn Unternehmen versuchen, neue Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle zu entwickeln, nur um zu innovieren, dann entstehen Produkte wie das Tempo Toilettenpapier, die Colgate Lasagne oder Crystal Pepsi – alles Innovationen, die nicht besonders lange auf dem Markt durchhielten. Hier könnte man unterstellen, dass wenig vom Kunden aus innoviert wurde. Es sollte also zuerst herausgefunden werden, welche konkreten Probleme es gibt. Dabei ist immer wieder festzustellen, wie negativ besetzt das Wort „Problem“ in unserer Gesellschaft ist. Daher sollte man ganz im Gegenteil dafür plädieren, dass alle zu Problemliebhabern und Problemliebhaberinnen werden! Denn nur wer ein konkretes Problem löst, innoviert sinnvoll.