Toy History: Die Geburt des Spiels – Der Löwenmensch
Vor langer Zeit, als die Menschen noch als Jäger und Sammler lebten, schnitzten die Höhlenbewohner der Schwäbischen Alb faszinierende Figuren aus Mammutelfenbein – darunter auch die älteste bekannte Darstellung eines Mischwesens.
Diese Figur ist Sinnbild für etwas, das bis heute das Denken über Spiel und Kreativität prägt: die Idee, über das Sichtbare hinauszudenken. Spielware ist mehr als ein bloßer Zeitvertreib – sie ist Ausdruck von Vorstellungskraft, Identitätssuche und kultureller Entwicklung. Offensichtlich begannen Menschen schon vor Jahrtausenden, Wesen zu erschaffen, die es so nie gab. Auch wenn sich Formen, Materialien und Funktionen verändern, bleibt die Faszination bestehen, Geschichten zu erfinden, in andere Rollen zu schlüpfen und der Lebensrealität für einen kurzen Moment zu entfliehen. Die moderne Puppenwelt ist nicht nur ein Spiegel des kindlichen Alltags – sie ist Teil eines uralten menschlichen Bedürfnisses, das Fantastische greifbar zu machen.
Autorin: Dr. Karin Falkenberg
Stellen Sie sich vor: Wir stehen in einer eiszeitlichen Höhle, irgendwo auf der Schwäbischen Alb, zwischen Mammutknochen, Rentierfellen und dem leisen Tropfen von Schmelzwasser. Vor uns liegt ein kleines Wunderwerk, das uns über eine Zeitspanne von fast 40.000 Jahren hinweg direkt in die Gedankenwelt unserer Vorfahren blicken lässt: der Löwenmensch.
Der Löwenmensch – oder, wie die Wissenschaft ihn nennt, „die Statuette eines menschenköpfigen Löwen“ – ist kein gewöhnliches Artefakt. Er wurde um 39.000 v. Chr. aus einem einzigen Mammutstoßzahn geschnitzt. Das Material allein ist spektakulär: Mammutelfenbein war damals eines der kostbarsten Rohmaterialien, schwer zu bearbeiten, aber langlebig und edel. Die Figur misst stolze 31 Zentimeter, ist damit die größte bekannte Skulptur der Altsteinzeit und besteht aus über 300 Fragmenten, die erst im Laufe der letzten Jahrzehnte mühsam zusammengesetzt wurden.
Was sehen wir? Einen aufrecht stehenden Menschen – aber mit dem Kopf und den Pranken eines Höhlenlöwen. Die Details sind verblüffend: sieben feine Kerben am linken Oberarm, vielleicht Zeichen einer Zählung oder eines Rituals. Sorgfältig eingeritzte Linien, die Fell oder Schmuck darstellen könnten. Die Skulptur ist so fein gearbeitet, dass sie nur mit großem Geschick und Geduld geschaffen werden konnte – ein Beweis für die erstaunliche Feinmotorik und das künstlerische Talent der Eiszeitmenschen.
Doch was war der Löwenmensch? Kultfigur, Schamanenmaske, Götterbild, Puppe, Jagdverkleidung – oder vielleicht eher das erste nachweisbare Rollenspielzeug der Menschheit? Wenn wir „Spielzeug“ als Objekt der Fantasie und des Rollenspiels verstehen, dann ist der Löwenmensch das älteste bekannte Spielzeug Mitteleuropas. Er lädt dazu ein, sich in andere Wesen zu verwandeln, Geschichten zu erfinden, Grenzen zu überschreiten – genau wie es Kinder und Erwachsene bis heute tun. Der Löwenmensch steht am Anfang der langen Geschichte des Spielzeugs. Er ist ein Beweis dafür, dass das Bedürfnis, sich zu verwandeln, Geschichten zu erfinden und die Grenzen der Wirklichkeit zu überschreiten, so alt ist wie die Menschheit selbst. In ihm spiegelt sich die Kraft der Vorstellung, die unsere Kultur bis heute antreibt – von der eiszeitlichen Höhle bis zum modernen Kinderzimmer.