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Susannes Alltag – Helikopter-Ich

2. Dezember 2019, 12:17

Kürzlich auf dem Oktoberfest. Es war nass, kalt, windig, ich stand mit meinen Kindern im Regen und verteilte gerade Mützen.

Kürzlich auf dem Oktoberfest. Es war nass, kalt, windig, ich stand mit meinen Kindern im Regen und verteilte gerade Mützen.
In diesem Moment schreitet eine junge, schöne Frau an mir vorbei, so flott, dass sie zu schweben scheint und alles an ihr weht, der Trachtenrock, der Seidenschal, die Haare natürlich ebenso. Ihre 30 Zentimeter hohen Absätze sind in Wirklichkeit Sprungfedern, sie trägt verzauberte Tausendmeilenstiefel, denke ich bewundernd. So dynamisch laufe ich nicht mal in meinen gel-gepolsterten Joggingschuhen mit Rückfederungstechnologie. Die Zeit hält an, der Eisregen ebenso, einem Lichtstrahl gleich, bahnt sie sich einen Weg durch die dunkle Menge. In ihrem Windschatten kleben vier Männer; mit leuchtenden Augen verfolgen sie die Frau wie Bienen einen Marmeladentopf. Benommen sehe ich ihr hinterher, engelsgleich entschwindet sie, eine Fata Morgana aus Glamour, Glanz und Gloria.
Verlegen sehe ich an mir herab und seufze leise. Da kann ich nicht mithalten. Meine Füße stecken wie üblich in derben Stiefeln, meine Beine in einer ausgebeulten Wollhose, von der man zum Glück nur wenig sieht, weil die extra lange Discounter-Regenjacke in Rentner-Graublau sie gnädig verhüllt. Eine Pudelmütze mit aufgenähten Elchstickern, die ich mir von meiner Tochter geborgt habe, komplettiert den extravaganten Stilmix.
Aber ich bin ja auch selbst schuld. Statt dauernd den Kindern hinterher zu rennen, hätte ich mich lieber mal um mein Äußeres gekümmert. All die Trilliarden Stunden, in denen ich zuließ, dass sie meine Nerven zermalmen, in denen ich Rotznasen putzte und Krümel saugte, hätte ich besser mal in rückfettender Eselsmilch gebadet und Klamotten geshoppt. Dann würde ich jetzt nicht in dieser Elchmütze rumstehen und mich lächerlich machen.

„Geh doch mal shoppen, anstatt ständig die Kinder zu bespaßen“, hatte mir bereits Jahre zuvor eine alte Bekannte, nennen wir sie Ute, geraten. Ute war der Meinung, dass ich mich viel mehr um mich selbst kümmern sollte. Sie fand an meiner Erziehung so manches übertrieben, unter anderem auch, dass ich meinen Kindern Fahrradhelme aufsetzte. Das überzeugte sie vollends, dass ich „voll helikoptermäßig drauf bin“. „Zu meiner Zeit gab‘s noch keine Helme und ich lebe immer noch“, sagte sie. Das Argument, dass in den 70ern viel mehr Kinder im Straßenverkehr verunglückten als heute, und wir dies auch den Fahrradhelmen zu verdanken haben, hielt sie für frei erfunden.
Eines Tages sollte Ute auf meinen Sohn aufpassen. Als ich ihn abholen wollte, kletterte er soeben in Utes Garten eine himmelhohe Buche empor. Mit vier Jahren und zerfetzten Crocs an den Füßen. Sie saß währenddessen im Korbsessel und schlürfte einen Prosecco. „Ute ist viel cooler als du“, sagte mein Sohn als wir nach Hause gingen. Hätte ich auf sie gehört, wäre ich jetzt im Einklang mit dem aktuellen Elterntrend. Denn dieser sieht vor, dass man sich in den ganzen Kinderkram nicht mehr allzu sehr involviert, sondern auch ein Leben neben den Kindern hat. Schließlich will keiner mehr in den Verdacht geraten, eine Helikopter-Mutti zu sein.
In den vergangenen Jahren wurde reichlich über die heutige Eltern-Generation gespottet, wir seien alle paranoid und überfürsorglich, hieß es in Zeitungen und Talkshows. Natürlich ist das an uns Eltern nicht spurlos vorbeigegangen. Und so ist plötzlich alles uncool geworden, was zuvor selbstverständlich war: Kinder in die Schule bringen, Abendessen kochen, Vokabeln abfragen. Eltern versuchen heute den Eindruck zu erwecken, dass sie tiefenentspannt sind. Darum sagen sie immer öfter Sätze wie: „Ich vertraue meinem Kind! Es kann schon ganz allein in den Kindergarten gehen!“
Nun, zum Jahreswechsel macht man sich ja so seine Gedanken und ich werde mein Dasein als Helikopter-Mutti definitiv überdenken müssen. Sollte ich in Zukunft mehr um mich selbst als um meine Kinder kreisen? Das Rezept mit der Eselsmilch hervorkramen, mich in Tüll und Taft schmeißen und dann mit der entsprechenden Dynamik durch die Oktoberfest-Menge schreiten? Hört sich gut an. Und die Kinder, die kommen auch ohne mich klar. Das schaffen sie.