Retail: Einzelhandel im Krisenmodus
Wie geht es weiter? Das ist sicher eine der meistgestellten Fragen dieser Zeit. Und auch der Handel findet sich im Moment in einer Welt des Dauerkrisenmodus. Im angelsächsischen Finanzwesen redet man in einem solchen Fall vom „schwarzen Schwan“, das bedeutet, ein völlig unerwartetes Ereignis tritt ein und überrascht die Gesellschaft.
Gleich mehrere „schwarze Schwäne“ haben wir in der letzten Zeit gesehen: zuerst Corona mit seinen Folgen für den Handel, dann begann das Lieferkettenchaos mit einem querstehenden Schiff im Suezkanal, und jetzt erzeugt der brutale Krieg in der Ukraine eine weitere Krise, deren Ende und Folgen weder abseh- noch abschätzbar sind.
Kam diese Gemengelage wirklich völlig unvorhersehbar, oder waren wir nicht willens, aufziehende Risiken wahrzunehmen und uns vorzubereiten? Das Wochenmagazin „Die Zeit“ stellte vor kurzem die Frage: Kann sich Deutschland noch ändern? Können wir die Fehler und mangelnden Investitionen in unserem Land noch ausgleichen und lösen? Können wir je wieder Normalität erreichen, und was ist eigentlich die viel zitierte neue Normalität? Wie sieht sie aus?
Der glücklicherweise kurzen Finanzkrise 2008 folgten mehr als zehn Jahre mit einer blühenden Wirtschaft. Ob die aktuellen Krisen so schnell verschwinden, ist mehr als fraglich.
Jetzt haben wir einen Krisencocktail, bei dem jedes einzelne Problem allein schon genug wäre: Inflation, eine aufkommende Zinswende, Gasknappheit und Corona. Deutschland hat vieles nicht rechtzeitig erkannt und leidet nun an Fehleinschätzungen und falschen Entscheidungen der letzten Jahre. Und mittendrin der Handel.
All die Veränderungen erfordern eine neue Aufstellung des Handels, aber auch der Konsumgüterindustrie. Wie können wir es schaffen, die Verbraucher*innen wieder in unsere Geschäfte zu holen? Wie können wir die Loyalität der Kund*innen zu unseren Unternehmen festigen und neue Zielgruppen begeistern? Welche Produkte sind überhaupt in Zukunft noch gefragt und entsprechen den Wünschen der Kund*innen? Nach der langen Coronazeit bemerkt man schnell, dass die Standardrezepte der Vergangenheit nur bedingt greifen. Die Frequenz in den Innenstädten erholt sich kaum. Gewinner sind die kleineren Städte. Große verlieren – wenn man durch die „High Streets“ von London oder München läuft, gibt es wenig Gedränge. Regionalität ist wieder in, und das können vor Ort inhabergeführte Läden meistens besser als auf Standardisierung setzende Ketten. Große Unternehmen müssen sich also um mehr Segmentierung und Individualität der Kund*innen und Sortimente kümmern. Auch die Einkaufszentren, die während Corona stark litten, müssen sich neu erfinden. Leerstände müssen kreativ besetzt und die Uniformität zu frischen Konzepten umgebaut werden.
Die Städte stehen vor der großen Aufgabe, bei sinkenden Einnahmen die Innenstädte wieder attraktiver zu machen. Gefördert werden Fahrradwege und vielfältige Aktivitäten. Ein Konsens zwischen Kommune, Immobilienbesitzern, Handel und Gastronomie wird nötig. Beispiele für erste Aktivitäten sind zu sehen: In Paris ist selbst das stark befahrene Seine-Ufer zu „Stränden“ umgebaut worden, und die berühmte Rue de Rivoli hat eine Fahrradstraße bekommen.
Die verstärkte Nutzung von Homeoffice bedeutet ebenfalls eine Schwächung der Frequenz in den Zentren und bietet dem Leben auf dem Land eine Chance. Mehr Aufenthaltsqualität und Förderung sozialer Treffpunkte sind notwendige Bausteine für die Stärkung der Innenstadt.
Handelsunternehmen müssen noch mehr kommunizieren, sich aber auch deutlicher positionieren. Ohne klare Botschaften und ein Wertemanagement bleiben sie austauschbar. Auch im Kampf um fehlende Arbeitskräfte spielt eine sympathische und nachhaltige Unternehmensstrategie eine wichtige Rolle. Gerade die jungen Verbraucher*innen und zukünftigen Mitarbeiter*innen achten bei Einkauf und Jobsuche stark auf Werte, Nachhaltigkeit und Flexibilität.
Spannend bleibt die Entwicklung der Inflation und der steigenden Energiepreise. Handelsfirmen müssen primär daran arbeiten, ihre Kosten im Griff zu haben und ihre Energiekosten zu reduzieren. Noch schwieriger wird es für die Verbraucher*innen. Die Kostenexplosion führt zu einem Sparverhalten. Schon jetzt ist der Einzelhandelsanteil am privaten Konsum in Deutschland mit 30 Prozent rund ein Fünftel niedriger als in der EU. Die Preissensibilität steigt wieder an, ist aber beim Onlinekauf deutlich höher, als beim stationären Einkauf. Discounter bauen ihren Marktanteil und ihre Eigenmarken wieder aus und greifen die größeren Märkte aggressiv an. In der Mitte des Marktes wird es eng und ungemütlich, während die Luxusmärkte trotz fehlender russischer und chinesischer Kund*innen höchst erfolgreich der Krise trotzen.
„Einigeln“ wird also nicht helfen – die Unternehmen müssen trotz Krise investieren in Nachhaltigkeit, in Storytelling und spannende Ladenkonzepte und die Digitalisierung und Verknüpfung stationär/online stark ausbauen.
Der stationäre Handel muss seine Stärken nutzen und pflegen. Loyalität lässt sich mit guter Leistung generieren und im intensiven Dialog mit den Kund*innen, wobei die Social-Media-Kanäle eine wichtige Rolle spielen. Unternehmerischer Mut, Kreativität und Flexibilität werden im Dauerkrisenmodus am besten helfen. Lust auf Handel wird mit Begeisterung und Leidenschaft gemacht – das gilt auch oder gerade in diesen schwierigen Zeiten.
Hermann Hutter
Hermann Hutter, der Autor dieses Beitrags, ist Inhaber des Spieleverlags „Huch!/Hutter Trade“ und außerdem erfolgreich im Einzelhandel tätig. Mit insgesamt 150 Mitarbeiter*innen präsentiert er in sieben Einzelhandelsgeschäften sowie im Onlinebereich („nostalgieimkinderzimmer.de“, „bertine.de“), ein breites, themenorientiertes Sortiment mit den Schwerpunkten Lifestyle, Büro und Buch. Hermann Hutter ist außerdem Vorsitzender des Branchenverbandes Spieleverlage e. V. und Vizepräsident im HDE – Handelsverband Deutschland sowie Präsident des Handelsverbands Baden-Württemberg.