Anzeige

Newborn – Der Babyflüsterer – Interview mit Dr. Harvey Karp

12. März 2021, 10:00

Dr. Harvey Karp ist einer der bekanntesten Kinderärzte in den USA. Seine „5 S-Methode“, um Schreibabys zu beruhigen (swaddle, side/stomach position, shush, swing, suck; zu deutsch: sanftes Einwickeln/Pucken, Seiten-/Bauchlage, sanfte Töne/ Schhhh-Laute, Schaukeln/Wiegen, Saugen), gilt dort als revolutionär. Astrid Specht erfuhr von ihm, weshalb die Methode so gut funktioniert.

Dr. Karp, es gibt eine Menge Literatur darüber, wie man ein weinendes, unruhiges Baby beruhigen kann. Ihre Methode, die „5 S”, scheint alle Grundlagen abzudecken. Woher haben Sie Ihre Inspiration dafür genommen?
Ursprünglich habe ich mich von der Arbeit von Arthur H. Parmelee Jr. inspirieren lassen, einem der besten Kinderärzte Amerikas. Er hatte die Beobachtung gemacht, dass viele Eltern blauäugig davon ausgehen, dass ihr Baby lächelnd und brabbelnd auf die Welt kommt. Nur um dann erstaunt festzustellen, dass sie ein winziges, verletzliches Neugeborenes in den Händen halten, das schnell rot anlaufen und so laut wie ein Feuermelder schreien kann.
Mein zweiter Aha-Moment kam, als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, wie Eltern in anderen Gesellschaften ihre Kinder erziehen, zum Beispiel die !Kung San in Afrika. Es wurde schnell klar, dass unsere Kultur – so fortschrittlich sie auch sein mag – rückständig ist, wenn es um das Beruhigen von Babys geht. Bei meinen Nachforschungen stellte ich fest, dass viele unserer Säuglingspflegepraktiken auf jahrhundertealten Mythen und falschen Vorstellungen beruhen. Bald wurde mir klar, dass es auf die Frage „Warum schreien manche Babys so viel?” eine überraschende Antwort gab: Babys schreien, weil sie drei Monate zu früh geboren werden! Sie vermissen die rhythmischen, beruhigenden Geräusche und Bewegungen des Mutterleibs und schreien eher, wenn sie sich in einer ruhigen Umgebung befinden.

Unsere Welt unterscheidet sich stark von der kuscheligen, geschäftigen, lauten Enge des Mutterleibs, und Babys sehnen sich nach diesen Reizen. Rhythmische, gebärmutterähnliche Geräusche, Bewegungen und Berührungen lösen einen neu entdeckten, universellen Säuglingsreflex aus: den Beruhigungsreflex. Dieser Reflex ist auch bei Erwachsenen noch leicht vorhanden und ist der Grund dafür, warum wir in Zügen, Flugzeugen und Autos einschlafen und das Rauschen des Meeres und des Windes lieben. Als ich die Beruhigungstechniken untersuchte, die von erfahrenen Eltern auf der ganzen Welt angewandt werden, stellte ich fest, dass sich die meisten in fünf einfachen Schritten zusammenfassen lassen: sanftes Einwickeln/Pucken, Seiten-/Bauchlage, sanfte Töne/Schhhh-Laute, Schaukeln/Wiegen und Saugen (engl: swaddling, side/stomach position, shushing, swinging and sucking). So wurde der 5-S-Ansatz geboren!

Es scheint, dass viele junge Eltern ihr inneres Gespür dafür verloren haben, wie sie ihr Baby beruhigen können. Warum ist das so?
Junge Eltern wissen oft intuitiv, wie sie ihre Babys beruhigen können. Tatsächlich haben Eltern und Großeltern seit Jahrtausenden ihre Babys intuitiv in den Schlaf gewiegt und mit Schhhh-Lauten beruhigt. Heute setzen sie ihr Baby ins Auto und fahren mit ihm herum, bis es einschläft. Lange Zeit wurde übersehen, dass diese Reize den Beruhigungsreflex des Babys auslösen – und sie funktionieren nur, wenn sie genau richtig gemacht werden.

Sie sagen, dass wir Menschen etwa drei Monate zu früh geboren werden. Wie kommt es, dass wir nicht drei Monate länger im Mutterleib bleiben?
Im Gegensatz zu einem Fohlen, dessen Überleben davon abhängt, einen großen, starken Körper zu haben, hängt das Überleben eines Menschenkindes davon ab, ein großes, intelligentes Gehirn zu haben. Das Gehirn ist nach neun Monaten so groß, dass die Babys aus dem Mutterleib „herausgeholt” werden müssen, lange bevor sie voll entwickelt sind. Andernfalls könnte der Kopf stecken bleiben, wenn er durch den engen Geburtskanal gepresst wird, was sowohl für die Mutter als auch für das Baby verheerend wäre. Mit zwölf Monaten wäre das unmöglich. Deshalb bezeichne ich die ersten drei Monate nach der Geburt als „4. Trimester“.

Sollte keines der 5 S funktionieren, welche andere Methode würden Sie Erstlingsmüttern und -vätern empfehlen, um ihr Baby zu beruhigen?
Jedes Baby ist einzigartig, daher kann es einige Übung brauchen, bis man die perfekte Mischung und die passende Intensität der „5 S“ für sein Baby gefunden hat. Wie bei einem Rezept für einen Kuchen müssen Eltern mehr als nur die Zutaten kennen, um einen leckeren Kuchen zu zaubern: Sie müssen genau wissen, wieviel Mehl sie hinzufügen und auf welche Temperatur sie den Ofen einstellen müssen. Viele Babys müssen zum Beispiel in einer besonders unruhigen Entwicklungsphase etwas energischer gewiegt werden. Oder vielleicht muss es von den Eltern etwas fester gepuckt werden. Beim Beruhigen ist es wichtig zu beachten, dass weißes Rauschen nicht gleich weißes Rauschen ist: Leises, dröhnendes weißes Rauschen funktioniert am besten. Und wenn ein unruhiges Baby hungrig ist, Schmerzen hat oder die Windel gewechselt werden muss, wird keine Kombination der 5 S ein Baby zum Schweigen bringen, sodass Eltern bei anhaltendem Weinen andere Ursachen ausschließen müssen.

Vielen Dank für diese spannenden Einblicke, Dr. Karp!