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Lesen 2.0 – auf der Frankfurter Buchmesse

9. Oktober 2017, 14:12

Das digitale Lesen, also Lesen 2.0, ist momentan hoch im Kurs und auch auf der Frankfurter Buchmesse, die vom 11. bis 15. Oktober 2017 stattfindet, ein wichtiges Thema. Ist das Internet ein einziges, großes Werk? Werden Emojis „gelesen“? Und werden Texte in Zeiten von Twitter und Co. anders gelesen als ein Buch im 19. Jahrhundert? Christiane Frohmann vom „Orbanism Space“, dem Digitaltreffpunkt der Frankfurter Buchmesse in Halle 4.1, gibt im folgenden Beitrag Antwort auf diese und weitere Fragen zum Thema Lesen 2.0.

Wenn man „2.0“ hinter etwas setzt, nimmt man automatisch eine bestimmte Haltung dazu ein, eine, die voraussetzt, dass sich im Verhältnis zum „1.0“ etwas geändert hat, etwas irgendwie interaktiver und kollaborativer geworden ist. Lesen 2.0, so bezeichnet man gern das Online- oder überhaupt das digitale Lesen, wäre demnach ein Lesen, das nicht mehr reines Konsumieren eines abgeschlossenen Werks ist, sondern lesendes Nehmen und sofort darauf reagierendes, schreibendes Geben. Dieses in Reaktion auf Gelesenes, zum Beispiel als Facebook-Kommentar oder Twitter-Reply, Geschriebene kann wiederum sofort von anderen gelesen werden und diese zum erneuten Schreiben darüber anregen – Reiz … Reaktion … Reiz … Reaktion; das Internet ist nicht zuletzt ein unendlicher Textfluss. Schreiben, Lesen, Geschriebenes, Gelesenes, Schreibende und Lesende gehören nicht mehr verschiedenen Ordnungen an, im Lesen 2.0 verbinden sie sich in unendlichen Wirkungsschleifen. Auch die Like-Herzchen und anderen Emojis wirken in diesem Kontext wie Geschriebenes, das augenblicklich „gelesen“, das heißt gesehen und als sinnhaft interpretiert wird, zum Beispiel als Affirmation, Abscheu oder trauriges Betroffensein, wodurch wieder Reaktionen von anderen getriggert werden, die jetzt ihrerseits den Post liken oder aber gegenläufige Kommentare schreiben. Das Lesen 2.0 ist also tatsächlich interaktiv und kollaborativ. Allerdings ist das kein wirklicher Unterschied zum klassischen Lesen – auch wenn man zunächst verführt ist, dies zu glauben –, denn die Literaturtheorie weiß schon lange um die Mitwirkung der Lesenden beim „Entstehen“ eines Werks. Dieses formiert sich zu nicht unbeträchtlichen Teilen im Gehirn der Rezipierenden, die dem lesend Wahrgenommenen halb- oder unbewusst vorhandene mentale Bilder hinzufügen. Demnach ist von der Antike bis heute beim Lesen immer eifrig „mitgeschrieben“ und im Sinne der Autorin oder des Autors auch verfälscht worden. Neu beim digitalen Lesen ist nur, dass diese erhebliche Partizipation der Lesenden nicht länger das Geheimwissen von Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern bleibt, sondern für alle deutlich erkennbar, weil am eigenen Leib erfahrbar und damit nachvollziehbar ist. Jede und jeder ist ein Publisher. Das neue, hybride Lesen und Schreiben erlaubt einer ungleich größeren Gruppe, selbst kreativ zu werden und aktiv an Kultur zu partizipieren. Es hat aber implizit der klassischen Vorstellung von Autor und Werk den Garaus gemacht. (Was aber nicht heißt, dass diese außerhalb des digitalen Lesens nicht noch recht erfolgreich am Leben erhalten wird.)
Lesen 2.0 ist nicht mehr und nicht weniger als die realistische Vorstellung dessen, was Lesen schon immer gewesen ist: etwas Interaktives und Kollaboratives, etwas, das Genie und für sich stehendes Werk logisch ausschließt. So kann heute auch nur jemand, der noch an Genie und autonomes Werk glaubt, zu dem Schluss kommen, dass die Kulturtechnik Lesen vom Aussterben bedroht ist. Faktisch ist noch nie von so vielen so viel gelesen worden wie heute. Lesen findet schlicht nicht mehr überwiegend in Büchern statt, sondern auf den vielen Screens, die unseren Alltag takten. Auch die Jugend liest weiter, durchaus auch noch Bücher, aber zusätzlich eben zum Beispiel Chats und Game-Anweisungen. Grund zur kulturellen Sorge besteht nur für Menschen, die zwischen „gutem Bücherlesen“ und „schlechtem Screen-Lesen“ unterscheiden. Als Distinktionszeichen haben Bücher tatsächlich in großen Teilen der Gesellschaft ausgedient, fast möchte man sagen: zum Glück. Bücher sind jetzt in ihrer schöneren, weil nicht Menschen ausschließenden Funktion erkennbar: als haptische und besonders ästhetisch gestaltete Träger von Literatur.
Lesen 2.0 ist Lesen 1.0 ohne bourgeoisen Filter. Kein Grund zur Aufregung also, weder positiv noch negativ, lieber einfach weiterlesen.