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Leben – Verwaiste Eltern

6. März 2020, 13:32

„Would you know my name If I saw you in heaven?Would you be the same If I saw you in heaven?I must be strong and carry onCause I know I don’t belong here in heaven“Eric Clapton, Tears In Heaven

Der Sitz des Vereins „Verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg e.V.“ befindet sich im ersten Obergeschoss neben einer Kirche. Darunter eine Kindertagesstätte. Im ersten Moment irritiert das fröhliche Kinderstimmengewirr, wenn man durchs Treppenhaus geht mit dem Ziel, einen Ort zu besuchen, der für die Trauer um Kinder bestimmt ist. „Das kostet manchen unserer Besucher große Überwindung“, bestätigt Nadine von Kameke, Koordinatorin für den Verein. Die Vereinsräume selbst wirken ruhig. Kontemplativ. Warm. Sie sind Anlaufstelle in schwierigen Zeiten. „Hier treffen wir Eltern und Kinder, die Familienmitglieder verloren haben. Auch ungeborene Familienmitglieder“, so von Kameke. Sie bietet mit ihren Teammitgliedern verlässliche und qualifizierte Trauerarbeit an, um trauernde Eltern, Kinder und Jugendliche zu unterstützen.

Familienglück im Handel

Die Babyartikelbranche beschäftigt sich tagein, tagaus mit den Bedürfnissen junger Familien. Wir wissen recht genau, welche Produkte Eltern das Leben leichter machen, wir kennen uns in der Diskussion um Erziehungsformen, Tragehilfen, Babyfones und Stillhütchen aus.
Das Bindeglied zwischen werdenden Eltern in Vorfreude auf neues Leben und einer Produktwelt, die neu und im ersten Moment undurchdringlich scheint, ist der Händler und viele Fachhändler bieten den Service, werdenden Eltern Produkte zum Zeitpunkt der Geburt bereitzustellen, die sie bereits Monate vorher ausgesucht haben.
Doch die Schwangerschaft ist eine fragile Phase. Sie beinhaltet stets ein Risiko. Etwa 3.000 Kinder sterben in Deutschland jährlich im Mutterleib oder bei der Geburt. Rund 2,5 Millionen sind es weltweit, meldet Unicef.

Gesellschaftliches Tabuthema

Gesellschaftlich wird das Thema des pränatalen Todes tabuisiert. Die Zeit der Schwangerschaft und Geburt und die Zeit als junge Familie sind ausschließlich positiv belegt. Umso schwerer ist es für Eltern dann, wenn sie selbst betroffen sind. Wenn der nicht denkbare Fall eintritt und sie ein Kind verlieren, für das sie nie sorgen konnten.
Von Kameke beschreibt diese Phase als Extremsituation für die gesamte Familie: „Im Leben ist alles plan- und regelbar. Ein gesundes Kind auszutragen und zu gebären, ist wahrscheinlich der erste nicht kontrollier- und beeinflussbare Moment bei Eltern. Das erzeugt Hilflosigkeit, daher rührt auch die Suche nach Anschluss und Austausch. Gerade eben wenn die Schwangerschaft nicht mit der Geburt eines gesunden Kindes beendet wird. Eltern mit Kindsverlust sehen auch den Partner erstmals in einer Extremsituation und verlieren somit eine sonst vielleicht verlässliche Stütze.“
Natürlich gibt es im Netz auch zahllose Angebote und Foren für Trauernde. Doch wie bei vielen Internetangeboten gibt es meist mehr Verwirrung, gegensätzliche Meinungen und Orientierungslosigkeit auf derartigen Plattformen. „Die begleitete Selbsthilfegruppe ist wichtig, da Unterstützung da ist: Ängste, die durch andere verursacht werden, sind schrecklich. Begleiter merken, wenn etwas im Raum steht, was angesprochen werden sollte. Das geht online nicht“, so von Kameke.

Geschwisterkinder in Not

Doch nicht nur Erwachsene sind in diesem Moment ohnmächtig. Auch Geschwisterkinder erleben diese Lebensphase als Notsituation. Die sonst verlässlichen Eltern sind gebrechlich. Es ist für Geschwisterkinder unheimlich schwer, in solchen Momenten die eigenen Eltern hilf- und schutzlos zu sehen. Und sie sind allein mit all ihren offenen Fragen und Emotionen. Leider reicht die Isolation auch weit über die Familie hinaus. Kinder, die Gleichaltrigen vom Verlust eines Geschwisterkindes erzählen möchten, werden gemieden. Und auch Mütter, die sich nach dem Verlust eines Kindes, auch eines ungeborenen, wieder in den Beruf integrieren möchten, sind im Büroalltag alleine. Kolleg*innen meiden den Kontakt lieber, bevor sie „etwas falsch machen“.
Der Verein für verwaiste Eltern und Kinder betrachtet das Thema daher allumfassend: Seminare in Betrieben für den richtigen Umgang mit Kolleginnen, denen dieses Schicksal widerfahren ist, gehören zum Inhalt der Vereinsarbeit wie auch die Arbeit mit Kindergruppen. Diese wird für Kinder ab dem fünften Lebensjahr angeboten. Innerhalb dieser Gruppen findet viel dialogisch-spielerische Arbeit statt, denn Kinder trauern anders als Erwachsene. Und individuell sehr verschieden. Oft ist für Erwachsene das Verhalten trauernder Kinder nicht nachvollziehbar. Und so ist es wichtig, dass die Trauerarbeit unabhängig von Erwachsenen ablaufen kann.

Nadine von Kameke ist Koordinatorin für den Verein „Verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg e.V.

Lieder als Lebensspuren

Auch der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski kennt die Thematik gut. Seit langem engagiert er sich für Hospiz- und Trauerarbeit für Kinder: „Ich habe beim Schreiben meiner ersten lebensfrohen Kinderlieder nicht erwartet, dass ich mich schon so bald auch mit dem Abschied von Kindern beschäftigen muss, mit der Trauer von Eltern, Geschwistern, Familien und Freunden. Oft durfte ich aber auch die ungewöhnliche Kraft der betroffenen Kinder spüren. Die Nähe, die meine Lieder in der Kindheit aufbauen, geht nicht verloren, wenn uns ein Kind genommen wird. Im Gegenteil, die Zurückbleibenden suchen nach Lebensspuren, nach Gemeinsamkeiten der Herzen und finden sie auch in Liedern, die zunächst ungewohnt bitter klingen, eines Tages aber ihre Wärme neu entfalten können.“
Nadine von Kameke bestätigt das: In Trauergruppen setzen sich Eltern kreativ mit diesen Lebensspuren auseinander. In Teamworkshops zum Thema „Der letzte Satz des verstorbenen Kindes“ beispielsweise sprechen, gestalten und schreiben verwaiste Mütter und Väter gemeinsam mit Trauerbegleitern. Ein aktiverer Ansatz sind Paddeltouren für Väter. Sie bringen nicht nur Orientierung auf dem Wasser, sondern auch auf dem veränderten Lebensweg. So kommen Gedanken wortwörtlich in Fluss.
Wann Trauerarbeit stattfinden kann – und wann sie den geschützten Raum der trauerbegleiteten Gruppe verlassen kann – ist sehr individuell. „Wir sind froh, wenn Eltern sagen, sie seien dankbar für die Gruppe, aber jetzt bereit, wieder selbst weiter zu leben“, so von Kameke.
Anleitung für den Handel
Der Schritt für Eltern, die gerade ihr ungeborenes Kind verloren haben, beim Babyfachmarkt das Kinderzimmer und den Wagen abzubestellen, ist sehr schwer. Da ist es hilfreich, wenn der Händler für sich selbst und für sein Personal einen „Fahrplan“ für solche Situationen hat. Der
Verein für verwaiste Eltern und Kinder
(verwaiste-eltern.de), der auch im Bundesverband verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e.V. (veid.de) organisiert ist, bietet Informationsmaterial zur Auslage an, und ist für finanzielle Zuwendungen, die seine wichtige Arbeit sichern, dankbar.

Joerg L.Meister