Handel: Urbanes Leben vor dem Aus?
Totgesagte leben länger, an diesem Satz ist was dran. Und auch
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“ wird gern bemüht. Was die „Reanimation“ der Innenstädte angeht, so gibt es, das zeigen die vorangegangenen Seiten, durchaus einen Silberstreif am Horizont. Hanau geht mit gutem Beispiel voran. Aber fast jede Innenstadt kann man ähnlich „aufLADEN“ und für junge Menschen, für Familien und Senioren attraktiv machen.
Sibylle Dorndorf sprach mit Frank Bittel, dessen Konzept „Holy Moly“ ein Lösungsansatz sein könnte.
Herr Bittel, die Innenstädte hatten vor der Pandemie schon Probleme, aber nun, nach zwei Jahren Stillstand, sieht es noch düsterer aus. Ist da Ihrer Meinung nach noch was zu machen, oder gehen in den Metropolen und Kleinstädten die Lichter aus?
Düsteren Zukunftszenarien schließen wir uns nicht an. Davon gibt es bereits zu viele, und sie schüren nur Angst – und die ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Fakt ist aber, dass Kleinstädte und Mittelzentren in Deutschland tatsächlich vor einer großen Herausforderung stehen: Sie verzeichnen starke Funktionsverluste aufgrund struktureller Probleme. Onlinehandel und attraktive Angebote in nahegelegenen Großstädten ziehen Kaufkraft und Kunden ab. Durch die Corona-Pandemie wurden viele der bereits existierenden Herausforderungen sichtbarer oder gar verstärkt. Somit ist das Bild, das uns viele Kleinstädte bieten, oft das gleiche: 1-Euro-Läden und Handyshops wechseln sich im gleichbleibenden Rhythmus mit Frittenbuden, Dönerläden und Wettbüros ab. Von Einkaufserlebnis, Wohlfühlen, innovativen und inspirierenden Produkten oder kulinarischen Entdeckungen fehlt jede Spur.
Und auf den einstmals schönen Flaniermeilen haben sich „die üblichen Verdächtigen“ breitgemacht: gesichtslose Ketten mit Billigware, Fast Fashion & Co. In Zeiten des Nachhaltigkeitsgedankens und -bestrebens müssten Stadtplaner da doch dringend reagieren, oder?
Wenn wir unsere Innenstädte wieder mit mehr Leben füllen möchten, können wir nicht so weitermachen wie bisher. Es braucht Veränderung – vielfältig auf allen Ebenen, den Willen der verantwortlichen Kommunen, eine Vernetzung von öffentlichen Trägern, privaten Unternehmen, Architekten, Designern, Projektentwicklern und Eigentümern. Ein großer Hebel liegt natürlich bei letzteren, hier für attraktive Innenstädte zu sorgen. Die Eigentümer müssen in ihre Immobilien investieren, die Städte müssen neben dem klassischen Handel auch ein Ort der Begegnung werden.
Die Retailflächen der Händler müssen einen echten Mehrwert bieten, was sich im Service, Verkauf und der persönlichen Beratung widerspiegeln kann. Auch sollten die Konzepte der Flächenbespielung über den reinen Abverkauf auch spielerische Anreize bieten und neue Erfahrungen ermöglichen.
Die Gemeinden sind gefordert, mit ihren Händlern in den Dialog zu gehen. Die Stadtverwaltung muss sich aktiv der neuen Herausforderung stellen, um die Revitalisierung der Innenstädte voranzutreiben.
Hierzu müssen bürokratische Hürden abgebaut, schnellere und großzügigere Genehmigungsprozesse in Gang gesetzt werden.
Die Chance liegt darin, ein regionales, innovatives und nachhaltiges Angebot zu schaffen, das weit ins Umland wirkt und sich fernab vom Mainstream der Großstädte befindet. Das Warenangebot muss überraschen, neue Impulse setzen. Es braucht initiale Leuchtturmprojekte, die Besucher anziehen.
Sie haben ein Konzept aufgelegt, um Innenstädte wiederzubeleben und attraktiv für Menschen zu machen, die nicht nur shoppen wollen, sondern sich treffen, zusammen essen et cetera. Können Sie dazu ein paar erklärende Worte sagen?
Zusammen mit der Marketing-Gesellschaft einer Kommune am Niederrhein haben wir ein für die Region richtungweisendes Konzept unter dem Namen „Holy Moly“ erarbeitet. In einer Baulücke zweier abzureißender Gebäude, bei der die Stadt Eigentümerin ist, soll eine zweigeschossige Markthalle entstehen, die dem Besucher ein vielfältiges und attraktives Angebot bietet. Als potenzielle Nutzungen sind neben einer gesunden und modernen Gastronomie und einem lokalen handwerklichen Café nachhaltige Modelabels, ein Conceptstore, ein individuelles Reisebüro, eine Rösterei, eine Schneiderei, ein Hutmacher oder ein Florist denkbar. Sowie diverse kleinere Flächen, die regionalen Startups günstig zur Verfügung stehen, um mit regionalen Lebensmitteln wie Feinkost, Designhandwerk und Mode erste Einzelhandelserfahrung zu sammeln – mit dem Ziel, später auf eigenen Retailflächen in der Nachbarschaft durchzustarten.
Bei der Gestaltung der Retailflächen wurde bewusst auf ein hochwertiges, einheitliches, baukastenähnliches Design Wert gelegt, das sich für die einzelnen Nutzungen konfigurieren und individualisieren lässt. Stets bleibt „Holy Moly“ die Dachmarke. Das sorgt für eine langfristig hochwertige Atmosphäre und lässt Raum für Produktinszenierungen – alles weit ab von langweiligen Shop-in-Shop-Lösungen großer Kaufhäuser. Ergänzt wird das Ganze durch wechselnde Veranstaltungen und Kurse, bei denen die Anbieter ihr Knowhow an Interessierte weitergeben (Floristikkurse, Feinkostherstellung, Nähkurse et cetera). So wächst neben der klassischen Verkäufer-Kunden-Beziehung langsam eine echte Community.
Unterstützt wird das Ganze durch „instagrammability“, also fotogene Selfiepoints, die für eine Verbreitung in den sozialen Netzwerken sorgen. Das Gebäude soll eine Strahlwirkung erzeugen und Startups ermutigen, eine regionale, nachhaltige, innovative Einzelhandelsstruktur zu generieren, auch und vor allem außerhalb der Markthalle. Die Stadt will das zusätzlich durch temporäre Veranstaltungen im öffentlichen Raum unterstützen: Foodfestivals, Designwochen und so weiter.
Wo und wie ist „Holy Moly“ umsetzbar? Welche Kriterien sollten erfüllt sein? Es muss ja auch Traffic herrschen. Ab welcher Einwohnerzahl, bezogen auf das Einzugsgebiet, ist „Holy Moly“ interessant für teilnehmende Unternehmen?
Bei der abgebildeten Idee handelt es sich um eine Kleinstadt mit 50.000 bis 60.000 Einwohnern. Genauer gesagt ging es um eine stadteigene Immobilie und um die sinnvolle Nutzung einer Baulücke.
Prinzipiell lässt sich dieses Konzept aber in jeder Stadt anwenden. Es muss ja nicht gleich eine neue Fläche dafür geschaffen werden. Es gibt auch die „Light-Variante“, in der die Stadt ein Kontingent an Retail-Baukastensystemen einkauft und den Händlern zur Miete anbietet.
So könnten Pop-up-ähnliche Flächen entstehen, um zum Beispiel experimentierfreudigen Startups eine Möglichkeit zu geben, ohne großen Invest in teure Ladenausstattung neue Flächen auszuprobieren. In einem Zug vermeidet die Stadt leerstehende Flächen.
Wenn wir es schaffen, von Architektur und Verkehr über Kunst und Kultur bis Handel und Gastronomie alle Bereiche mitzudenken, haben letztendlich alle etwas davon: Einzelhändler, Eigentümer, Stadt und Bürger in einer lebendigen und lebenswerten Innenstadt!
Stehen Sie für Fragen interessierter Unternehmen aus unserer Leserschaft zur Verfügung?
Selbstverständlich.
Herr Bittel, ich bedanke mich für das informative Gespräch!
Toy Business Forum 2023
Frank Bittel, CEO ppm GmbH
Thema: Nachhaltiger Ladenbau: #vermeiden#ersetzen#kompensieren