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Global – Europe first?

12. März 2021, 9:34

Viele Experten vermuten aufgrund der Ereignisse in der Coronakrise, dass sich der globale Warenstrom mittelfristig verändern wird. Ob dies der alleinige Auslöser ist, kann hinterfragt werden, denn politisch ist die Globalisierung und die damit einhergehende Nutzung internationaler Ressourcen zur Steigerung von Innovation und Profitabilität vielen Politikern suspekt, da wenig kontrollierbar, und sie führt auch zu Abhängigkeiten, wie sich in der Krise offenbarte. Ein Beitrag von Martin Böckling.

Die Herstellung von Tischtennisschlägern in China

Der ehemalige US-Präsident Trump hatte China im Blick, als er im Zuge von „America First“ von „retrieval“, also der Rückholung von Arbeitsplätzen sprach. Trump bezifferte rund 400.000 Jobs, die nach Asien exportiert wurden. Die Zahl scheint untertrieben, allerdings waren ihm offensichtlich nicht die Abhängigkeiten in einer globalen Welt klar, also die puzzlehafte Verzahnung jedes Wertschöpfungsschrittes bis zum fertigen Produkt, das auf internationale Zulieferketten angewiesen ist. Gerade die amerikanischen Handelsketten, beispielsweise Walmart ab den 60- Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nötigten heimische Konsumgüter-Produzenten geradezu, in Asien herstellen zu lassen.
Zunächst war es Japan, dann Korea und schlussendlich China, das sich als Werkbank der Welt etablierte. Bedenkt man, dass das Land Anfang der 60er-Jahre infolge des „großen Sprungs nach vorn“ in einer fast drei Jahre dauernden Hungersnot 15 bis 55 Millionen Einwohner verlor, steht es heute, knapp 60 Jahre später als faktisch führende Wirtschaftsnation da. Es sind nicht nur Komponenten, sondern fertige Konsumgüter, Medikamente und medizinische Versorgungsgüter, die der westlichen Welt schmerzhaft vor Augen führen, wie abhängig wir geworden sind. Die Chinesen sehen sich heute nicht nur als Werkbank, sondern als Entwickler und Designer.

In der Baby- und Spielwarenbranche mit dem hohen Produktionsanteil von immer noch deutlich mehr als 75 Prozent haben sich viele Hersteller auf die Rolle des „Labelgebers“ zurückgezogen und überlassen die komplette Produktentwicklung den Asiaten. Darunter auch einige schwarze Schafe, die dann noch frecherweise „Made in Germany“ über ihre Messestände schreiben, beziehungsweise damit werben, obwohl nur ein winziger Bruchteil der Sortimentsteile tatsächlich deutschen Ursprungs ist. Dies wird versucht, mit pseudoethischen Aktionen zu kaschieren.

China erobert den Weltmarkt

Aus der passiven Rolle des Ausführenden heraus greift China nach der allumfassenden Macht. Direkte Investitionen in europäische Unternehmen, skandinavische Autobauer, deutsche Robotikunternehmen und weitere Tech-Firmen werden übernommen. Indirekt investieren sie über Private Equity-Boutiquen in mittelständische Unternehmen, um die Herkunft „Made in China“ mit den akquirierten Marken zu verschleiern und sich nachhaltigen Absatz zu sichern. One Belt, One Road, also die neue Seidenstraße, rundet die chinesische Strategie eines allumfassenden Warenmanagements zur Eroberung der Weltmärkte ab. Produktentwicklung, Category Management, eine innovative Supply Chain, gesteuert mit vorbildlichen Prozesssteuerungstools (nicht umsonst ist ein innovativer Kommunikations- und Tech-Konzern auf der Black List gelandet) lassen uns Europäer blass aussehen.

Martin Böckling war viele Jahre Geschäftsführer von Spiel & Spass und berät heute große Handels- und Industrieunternehmen

Kluge Berater versuchen indessen, in der Corona-Krise kluge Konzepte zur Supply Chain Resilience zu verkaufen. Tools, die erfolgreiche Unternehmen zur Produktionssicherung in Fernost schon seit Jahrzehnten als DNA in sich tragen und für die internationale first class Logistiker wie DHL, was den Warenfluss angeht, hervorragend aufgestellt sind. Trotz allem kommt es dennoch in Teilbereichen zu Lieferengpässen, durch verknappten und somit teuren Frachtraum sowie der im ersten Schock der Pandemie unterbliebenen Dispositionen bei asiatischen Vorlieferanten. Auch die Politik entdeckt die Supply Chain für sich und möchte, wie so vieles, im Schatten der Pandemie noch schnell ein Lieferkettengesetz durchsetzen. Auch hier sind mittelständische Unternehmen schon seit Jahren mit Maßnahmen wie die unter anderem auch vom Autor durchgeführten Fabrik-Audits meilenweit voraus und übertreffen Standards als Selbstverständnis einer nachhaltigen Unternehmenspolitik. Allerdings ist das der Kern allen Übels. Es erfüllt sich die in den 70er-Jahren entwickelte Konvergenztheorie, wonach sich die kapitalistische Marktwirtschaft und die zentrale Verwaltungswirtschaft (Planwirtschaft) einander annähern. Dieses Übel heißt überall staatliche Eingriffe und überbordende Bürokratie, die neben dem Streben nach höherer Profitabilität ein wesentlicher Aspekt für viele Mittelständler war, die Produktion ins Ausland zu verlagern. Denn die per Gesetz freigestellten und mit Dokumentationsaufgaben befassten Mitarbeiter blähen Personalkosten unnötig auf, wobei es bei maschinenintensiver Produktion weitestgehend egal ist, wo die Maschinen stehen, wenn man die überteuerten Energiekosten in Deutschland einmal vernachlässigt. Insofern gibt es tatsächlich eine Reihe von deutschen Herstellern, die hier ihren Schwerpunkt der Produktion haben, viele, mit Preisen ausgezeichnete mittelständische Unternehmen mit Marken, die zurecht mit „Made in Germany“ werben.

Suche nach Beschaffungsmärkten

Während Deutschland sich also in endlosen, unproduktiven Debatten verschleißt, wird unter chinesischer Führung der nach Köpfen größte Wirtschaftsraum geschaffen. RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), mit der man sich selbst für die nächsten Jahre einen stark expansiven Binnenmarkt geschaffen hat. Allein der chinesische Markt, der nach Willen der dortigen Regierung bevorzugt entwickelt wird, birgt für alle Teilnehmer im Wirtschaftsraum enormes Potenzial. Dies und die Tatsache, dass China einfach kein gesteigertes Interesse an Low-Tech-Industry hat, sondern sich zurecht als High-Tech-Nation sieht, wird auch eine Verschiebung innerhalb der traditionellen Industrie nach sich ziehen. (Dies hatte der Autor schon 2008 bei einem Interview mit N24 angemerkt.)
Insofern ist es tatsächlich so, dass wir uns nachhaltig Gedanken über neue Beschaffungsmärkte machen müssen. Gute Ressourcen gibt es in Europa, wobei Deutschland, leider ideologisch fehlgeleitet, für die meisten Low-Tech-Konsumgüter aus dem Rahmen fällt. Während gerade die baltischen Staaten sowohl politisch als auch unternehmerisch im IT-Sektor reüssieren, bieten sich osteuropäische Länder, leider trotz zum Teil komplizierter Bürokratie, ebenfalls an. 

Die Herstellung von Ankleidepuppen

Dabei gilt es, Potenzialreserven gerade in Bulgarien und Rumänien sowie Süd-/Osteuropa zu heben, denn gerade die aktuelle Lohnkostenstruktur ist interessant. Von Branchenunternehmen, die dort bereits investiert haben, weiß man, wie langwierig und kostenintensiv die Mitarbeiterentwicklung ist. Hier fehlen allerdings die kritischen Massen, die in Asien für den amerikanischen Markt hergestellt werden. Alternativen zu China in Asien gibt es – neben den Philippinen, Indonesien und Malaysia, Thailand sowie Vietnam und Kam-bodscha. Das letztgenannte Land hat bereits China in der Fahrradproduktion für den europäischen Markt den Rang abgelaufen. Leider hat sich der afrikanische Kontinent trotz eines enormen logistischen Vorteils bisher nicht als erste Wahl etablieren können. Lediglich Südafrika und einige Nordafrikanische Staaten zeigen eine positive langfristige Kontinuität für Investments. Als Beispiel kann man auch hier Spielwarenproduzenten anführen. Selbst Chinesen, die sehr viel in Infrastrukturprojekte in Afrika investierten, haben sich mit ihren Fabriken dort bereits teilweise wieder zurückgezogen.
Also „Europe first“, um Arbeitsplätze zurückzuholen und darüber hinaus eine zuverlässige Lieferkette zu haben? Durchaus denkbar, wenn das politische Versprechen der Entbürokratisierung endlich eingelöst wird und Investitionen der Europäischen Union nicht nur zielgerichtet, sondern auch kontrolliert erfolgen.
Am Ende wächst Chinas Volkswirtschaft voraussichtlich um elf Prozent, interessanterweise analog zur Umsatzentwicklung im Spielwarenmarkt per Ende Oktober, also scheint sich die Supply Chain nicht wirklich zu verändern. Nach dem rheinischen Motto, „et hätt noch immer jot jejange“ scheint man wieder in alte Strukturen zurückzufallen. In der Distribution verschieben sich die Absatzkanäle, aber das ist ein anderes Thema.

Martin Böcking