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Fokus: Stresstest Winter

2. Dezember 2022, 11:02

Wir befinden uns in der schwersten Energiekrise seit Jahrzehnten. Eine mögliche Gas- und/oder Strommangellage könnte zu massiven Versorgungsproblemen führen. Sind Sie vorbereitet?

Die wirklichen Krisen stehen erst noch bevor. Durch die derzeitigen Entwicklungen in mehreren europäischen Ländern kann es nicht ausgeschlossen werden, dass es im kommenden Winter zu weitreichenden Gas- und Stromlieferunterbrechungen kommen könnte. Im schlimmsten Fall droht sogar ein Blackout, das heißt ein europaweiter Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall. Alle Ereignisse würden zu schwerwiegenden Lieferkettenunterbrechungen und Versorgungsengpässen führen. Die Hoffnung, dass es schon nicht so weit kommen wird, ist ohne konkrete Vorsorgemaßnahmen trügerisch und gefährlich.
Während das Szenario Blackout oder eine mögliche Strommangellage in Fachkreisen bereits länger thematisiert werden, war eine schwere Gaskrise bisher kaum vorstellbar, auch wenn dieses Szenario bereits 2018 im Rahmen der deutschen Übung LÜKEX 2018 „Gasmangellage in Süddeutschland“ geübt wurde. Die Erkenntnisse waren erschütternd: Die vielschichtigen wechselseitigen Abhängigkeiten sind kaum bekannt. Eine Gaskrise könnte verheerende Lieferkettenunterbrechungen und ein Versorgungschaos auslösen. Nicht nur in der betroffenen Region. Unsere Lieferketten sind hochgradig vernetzt und wechselseitig abhängig. Störungen können sich rasch und weiträumig ausbreiten.
Ob die von der EU anvisierte Gasbedarfsreduktion von 15 Prozent tatsächlich erreicht werden kann, wird sich noch zeigen. Bisher hat vor allem der milde Herbst geholfen, wichtige Zeit zu gewinnen. Technisch ist eine Gasbedarfsreduktion häufig nicht einfach umsetzbar, weil es bisher dafür kaum Vorbereitungen gab. Bei vielen Produktionsprozessen ist das kaum möglich. Eine zwangsweise Durchsetzung in Form einer Gasmangelbewirtschaftung wäre wohl nur über großflächige Stromabschaltungen durchführbar. Ansonsten drohen massive Infrastrukturschäden. Fällt der Gasdruck unter ein gewisses Niveau, werden Sicherheitsventile aktiviert, die dann manuell wieder in Betrieb genommen werden müssten. Bis dahin wären aber längst Gaskraftwerke oder die industrielle Produktion zusammengebrochen, da hier wesentlich mehr Druck benötigt wird. In der EU gibt es über 1.400 Gaskraftwerke, die auch für die Wärmversorgung und eine rasche Netzstabilisierung benötigt werden, wenn die Stromproduktion aus Wind- oder Photovoltaik-(PV-)Anlagen nicht den Prognosen entspricht.

„Eine Gaskrise könnte verheerende Lieferkettenunterbrechungen und ein Versorgungschaos auslösen.“


Der Autor dieses Beitrags, Herbert Saurugg, MSc ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge (gfkv.at) sowie Autor zahlreicher Fachpublikationen. Der ehemalige Berufsoffizier beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit der steigenden gesellschaftlichen Verwundbarkeit sowie mit der Frage, wie wir diese wieder reduzieren können. Er betreibt dazu einen umfangreichen Fachblog und unterstützt Gemeinden, Unternehmen und Organisationen bei einer ganzheitlichen Blackout-Vorsorge.
saurugg.net

Herbert Saurugg, MSc

Vielschichtige Probleme

Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Monaten die Lage im europäischen Stromversorgungssystem erheblich zugespitzt: Die Strompreise gingen nicht nur aufgrund der ex-trem gestiegenen Gaspreise durch die Decke. Es fehlen in immer mehr Ländern verlässliche Produktionskapazitäten. Etwa in Frankreich, wo im Sommer rund die Hälfte der Kernkraftwerke vom Netz waren und wo noch unklar ist, ob diese bis zum Winter wieder in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen werden. Derzeit kann der geplante Fahrplan nicht eingehalten werden. Frankreich war bisher neben Deutschland der Hauptexporteur von Strom und wurde erstmals im Sommer 2022 zum großen Stromimporteur. Deutschland ist damit das letzte Land, das noch größere Strommengen exportieren kann, wenn genug Wind und Sonne zur Verfügung stehen. Aber auch hier werden mögliche Probleme nicht ausgeschlossen, insbesondere, sollte sich ab Februar die Gasverfügbarkeit zuspitzen. Wie dann der Importbedarf der Schweiz, von Italien oder von Österreich gedeckt werden kann, bleibt offen. Der kurzfristig ermöglichte Streckbetrieb der letzten drei deutschen Kernkraftwerke bis April 2023 ist zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer. Aber auch hier muss sich erst zeigen, wie viel Leistung tatsächlich noch zur Verfügung gestellt werden kann.
Im Sommer führte die extreme Trockenheit dazu, dass in vielen Ländern die Stromproduktion aus Wasserkraftwerken deutlich unter den langjährigen Schnitt fiel. Aber auch die Kühlung von thermischen Kraftwerken war beeinträchtigt. Die Situation hat sich mittlerweile etwas entspannt, auch wenn die Speicherstände in verschiedenen Ländern weiterhin unter dem üblichen Niveau stehen.
Ob die kurzfristige Reaktivierung von bereits in der Abschaltung befindlichen deutschen Kohlekraftwerken als Ersatz für Gaskraftwerke die Versorgungssicherheit gewährleisten wird können, bleibt abzuwarten. Es ist wohl kaum davon auszugehen, dass hier sehr viel Aufwand für die Wartung und Instandsetzung der bereits abgeschriebenen Anlagen betrieben wurde. Damit besteht auch hier grundsätzlich ein erhöhtes Störungsrisiko.
Die Zerstörung von drei Nord Stream-Pipelines hat zudem eine völlig neue Dimension aufgemacht, die bisher kaum vorstellbar war. Militärstrategen rechnen durchaus mit weiteren Sabotageaktionen in Europa, die auch die Strominfrastruktur betreffen könnten.
Zum anderen ist absehbar, dass die Gasversorgung im Winter 2023/24 noch problematischer wird und dass aus heutiger Sicht der Bedarf nicht gedeckt werden kann. Auch die Probleme im Stromversorgungssystem werden bis dahin nicht geringer werden, da nach dem Abschalten der letzten drei Kernkraftwerke im April 2023 noch mehr Leistung im System fehlen wird.
Der größte Unsicherheitsfaktor ist die Wetterentwicklung. Gibt es einen milden Winter, wie in den vergangenen Jahren, oder gibt es wieder wie 2012 und 2017 eine Kältewelle? Eine solche würde sowohl die europäische Gas- als auch die Strominfrastruktur massiv unter Druck setzen, was in der derzeitigen Situation besonders kritisch werden könnte. Daher wird bereits in mehreren Ländern mit einer möglichen Strommangellage gerechnet, wo die Systemstabilität wahrscheinlich nur mehr mit rollierenden Flächenabschaltungen („rolling blackouts“) sichergestellt werden kann. Eine Maßnahme, die bislang kaum vorstellbar war und gleichzeitig massiv in den Auswirkungen unterschätzt wird, wie auch bereits 2014 die Schweizer Sicherheitsverbundübung (SVU’14) klar gemacht hat. Seither wurden aber kaum wesentliche Vorbereitungsmaßnahmen getroffen. In vielen Ländern gibt es nur generische Pläne auf Papier, die häufig nicht zu Ende gedacht wurden. Denn bei großflächigen, mehrstündigen Stromabschaltungen geht es nicht nur um einen „geplanten Stromausfall“, wie das gerne verharmlost wird. Gerade im IT- und Infrastrukturbereich drohen schwere Hardwareschäden sowie langwierige Wiederanlaufzeiten, worauf kaum jemand vorbereitet ist. Auch viele Supermarkt-Kühlvitrinen werden ab drei Stunden Stromausfall unbenützbar, weil das Kühlmittel austritt und dann erst wieder durch eine*n Servicetechniker*in nachgefüllt werden muss.
Daher könnte der kommende Winter einige schwerwiegende Überraschung parat haben. Bisher wird vorwiegend auf das Prinzip Hoffnung gesetzt und wertvolle Zeit für Vorbereitungen vergeudet. Denn es geht nicht darum, ob es wirklich so weit kommt („Wahrscheinlichkeit“), sondern ob wir in der Lage wären, mit solchen Ereignissen umzugehen. Derzeit muss diese Frage mit Nein beantwortet werden, und schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden wären die Folge.

Die Phasen eines Blackouts, das heißt eines europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfalls

Strommangellage bis Blackout

Eine Strommangellage in einer Region wäre wohl beherrschbar. Sollten jedoch, wie derzeit erwartet wird, in verschiedenen Ländern gleichzeitig rollierende Flächenabschaltungen erforderlich werden, würde sich das Systemverhalten verändern. Ob unter diesen Umständen die bisher erfolgreichen Sicherheitsmechanismen ausreichend greifen, kann wohl kaum jemand seriös abschätzen. Daher sollten wir auch auf mögliche ungeplante, großflächige Ausfälle (Blackouts) vorbereitet sein. Dieses Szenario wird zwar seit einiger Zeit mehr und mehr in der Öffentlichkeit thematisiert, aber ausreichende Vorbereitungsmaßnahmen werden bisher kaum irgendwo getroffen.

Phasen eines Blackouts

Viele Überlegungen beim Szenario Blackout enden bei der Phase 1 des Stromausfalls, was deutlich zu kurz greift: Denn während die österreichische oder Schweizer Stromversorgung binnen ein bis zwei Tagen wieder funktionieren sollte, könnte das je nach Ausfallsgröße und Ursache in anderen Ländern wie Deutschland erheblich länger dauern. Auch nach dem Stromausfall wird es zumindest mehrere Tage dauern, bis wieder überall die Telekommunikationsversorgung (Handy, Festnetz, Internet) funktionieren wird (Phase 2). Ein großer Unsicherheitsfaktor ist hier wohl die gelebte Praxis: „Never touch a running system.“
Bis dahin funktionieren weder eine Produktion noch Logistik noch eine Treibstoffversorgung. Daher werden viele Prozesse frühestens in der zweiten Woche wieder anlaufen können, und erst dann können Warenlieferungen wieder aufgenommen werden. Zusätzliche internationale Abhängigkeiten (Rohstoffe, Produktteile oder Verpackungsmaterialien) werden den Wiederanlauf nochmals verzögern. Auch bei „nur“ einer zu erwartenden Gas- und Strommangellage ist mit massiven Produktions- und Verteilungsproblemen zu rechnen.

„Eine Kältewelle würde sowohl die
europäische Gas- als auch die Strominfrastruktur massiv unter Druck setzen.“

Was kann jede*r von uns tun?

Wir sollten davon ausgehen, dass die bisherige Verhinderungspolitik nicht ausreichen und es im kommenden oder nächsten Winter zu schwerwiegenden Versorgungsproblemen kommen wird. Es geht um die Herstellung der Handlungsfähigkeit, ohne dass wir konkret wissen, in welcher Form wir diese genau benötigen werden. Die zentrale Basis dafür ist die Eigenversorgungsfähigkeit der Bevölkerung und damit der eigenen Mitarbeiter*innen. Ein Großteil der Bevölkerung ist nicht auf schwerwiegende Versorgungsunterbrechungen und -einschränkungen vorbereitet. In Österreich oder Deutschland hat rund ein Drittel der Bevölkerung und damit auch der Mitarbeiter*innen spätestens nach vier Tagen nichts mehr zu essen, ein weiteres Drittel spätestens nach einer Woche. Das bedeutet, dass sich am Ende der ersten Woche rund 55 Millionen Menschen in Deutschland im gefühlten Überlebenskampf befinden: Sie haben nichts mehr zu essen und sie sehen, dass die Supermärkte leer oder möglicherweise sogar zerstört sind. Eine Krisenbewältigung wird damit sehr schwierig, auch wenn unser Körper mehrere Wochen ohne Nahrungszufuhr auskommen würde. Dennoch wird bei den Vorsorgemaßnahmen häufig die Mitarbeiterverfügbarkeit viel zu wenig betrachtet oder als selbstverständlich angenommen. Eine trügerische Sicherheit. Gleichzeitig ist diese die wesentliche Basis für alle anderen betrieblichen und organisatorischen Maßnahmen. In den meisten Unternehmen geht es nur darum, ein geordnetes Herunterfahren sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter*innen sicher nach Hause kommen oder im Unternehmen ein Dach über dem Kopf haben, sollte Ersteres aufgrund der Entfernung oder anderer Umstände nicht möglich sein. Der Wiederanlauf wird in den meisten Unternehmen erst in der Phase 3, also ab der zweiten Woche, wenn hoffentlich wieder eine Grundversorgung beginnt, möglich sein. Also wenn die Mitarbeiter auch wieder telefonisch oder per Mail erreichbar sind. Vorher macht eine Betriebsaufnahme kaum Sinn und wird dann auch noch von vielen externen Faktoren wie beispielsweise Kunden oder Lieferanten abhängig sein. Hilfestellungen stehen dazu unter saurugg.net/leitfaden zur Verfügung.

Es bleibt also noch viel zu tun, um diese einfachen Ablaufpläne vorzubereiten und auch die Mitarbeiter*innen entsprechend zu sensibilisieren. Denn auch wenn der kommende Winter gut gehen sollte, die Aussichten auf den nächsten sind noch weniger rosig. Wir steuern generell auf eine sehr turbulente Zeit zu, und je besser wir uns darauf vorbereiten und diese Turbulenzen erwarten, desto besser und rascher werden wir auch diese Turbulenzen wieder verlassen können.

Blackout-Simulation „Neustart“

Wie kann man sich auf solche vernetzten Szenarien vorbereiten oder sogar die Blackout-Bewältigung üben? Diese Frage haben sich Till Meyer, ein Entwickler von didaktischen Spielen, sowie Herbert Saurugg, internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte, gestellt und daraus die Blackout-Simulation „Neustart“ (neustart-das-spiel.eu) entwickelt. Diese Blackout-Simulation dient nicht nur den kommunalen Krisenstäben als Trainingswerkzeug, sondern ist auch ein spannendes Gesellschaftsspiel, das häufig wenig beachtete Zusammenhänge vermittelt und damit auch die Krisenbewältigungsfähigkeit stärkt. Derzeit wird die zweite Auflage vorbereitet. Vorbestellungen sind bereits möglich.

Herbert Saurugg