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Fokus: Rassismus im Museum – „Ein heftiger Anlass zum Perspektivwechsel“

30. August 2021, 10:26

2018 hatte sich eine US-Amerikanerin mit afrikanischen Wurzeln bei ihrem Besuch im Nürnberger Spielzeugmuseum über ein 100 Jahre altes Ausstellungsobjekt heftig beschwert, den sogenannten „Alabama Coon Jigger“. Diese mit Federmotor ausgestattete, schwarze tanzende Blechspielfigur sei rassistisch. Sie verletze die Gefühle afroamerikanischer Menschen, weil sie ohne Erklärung oder Distanzierung auf die Zeit der Sklaverei referiere. Was folgte, ist eine bis heute dauernde Aufarbeitung dieser Kritik. Im Interview stellt Museumsleiterin Dr. Karin Falkenberg vor, wie sie zusammen mit ihrem Team darauf reagiert. Anfängliches Sehr-ernst-Nehmen, leidenschaftliche Debatten, Workshops und Weiterbildungen führten letztlich zu einem spannenden Perspektivwechsel.

Frau Dr. Falkenberg, bevor wir auf den Perspektivwechsel zu sprechen kommen, können Sie zunächst kurz schildern, wie Sie auf den Vorwurf der Amerikanerin zu reagieren wussten?
Damals hatte ich bereits einige Zeit an der Neukonzeption für das Spielzeugmuseum gearbeitet, doch es gab konservative Kräfte, die Veränderungen am Haus nicht unterstützen. Ich vertrat eine andere Meinung, hatte aber noch wenig Rückhalt für meine Weiterentwicklungsimpulse. Durch den berechtigten Rassismusvorwurf der Amerikanerin wurde plötzlich allen deutlich: Wir müssen etwas ändern. Gemeinsam. Wir haben auch sofort losgelegt. Der erste Schritt war: raus mit den rassistischen Objekten aus der Dauerausstellung. Der zweite: ein Anti-Rassismus-Workshop für das gesamte Team des Spielzeugmuseums. Aufsichtskräfte, Wissenschaftsteam, Verwaltungsleute – alle wurden sensibilisiert. Der dritte Schritt: Beginn der wissenschaftlichen Untersuchung und Kontextualisierung der problematischen Objekte.

Prof. Dr. Karin Falkenberg leitet seit 2014 das Spielzeugmuseum in Nürnberg

Das Spielzeugmuseum wirft künftig einen neuen und kommentierenden Blick auf umstrittene Schaustücke wie den „Alabama Coon Jigger“ und den „Geldfresser“

Haben Sie sich die Frage gestellt, wie die Auseinandersetzung weitergehen könnte? Man kann ja nicht auf jeden Museumsbesucher einzeln reagieren?
Wir werden in Zukunft durch die starke Demokratisierung unserer Gesellschaft mehr und stärkere Mitsprache-Impulse von Besucherinnen und Besuchern erleben – und das ist auch gut so. Wir Menschen verändern und entwickeln uns täglich, unsere Gesellschaft verändert sich laufend, ebenso unsere Sprache. Wandel ist normal, auch wenn er anstrengend ist. Im Museum kristallisiert sich diese Polarität: Ein Museum hat einerseits die Aufgabe, zu bewahren, was war. Andererseits spiegelt ein Museum die Blickwinkel von uns Menschen wider. Wenn ein Museum heute rassistische Objekte unkommentiert ausstellt, verweist das darauf, dass Teile unserer Gesellschaft nach wie vor rassistisch denken.
 
Es war Ihnen wichtig, dass weder die betroffenen Ausstellungsobjekte noch die Kritik daran tabuisiert werden. Sie wollten diesen „blinden Fleck“ bewusst angehen, indem Sie sich ihm im Museum stellten. Ist das korrekt?
Wir wollen Rassismen nicht wiederholen. Wir dürfen problematische Objekte aber auch nicht tabuisieren, sonst entfalten sie eine eigene Macht. Deshalb werden wir problematische Objekte künftig umfassend erklären, denn Museen sind Institutionen der Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition unserer Gesellschaft. Der leidige Satz „Jetzt darf man nicht mal mehr das N-Wort benutzen“ ist ein Beispiel dafür, wie viel Kraft und Sensibilität anti-rassistisches Arbeiten und Kuratieren bedarf. Wir arbeiten mit politisch aktiven schwarzen Deutschen zusammen, die das Spielzeugmuseum in Zukunft anti-rassistisch beraten. Wir kooperieren mit schwarzen Künstlerinnen, um weißen Menschen problematische Objekte zu erklären und den Dingen ihre Schärfe, ihren Rassismus, zu nehmen.
 
War die kontroverse gesellschaftliche Debatte, die aktuell ja sehr relevant ist, nicht längst überfällig?
 Wir sind mittendrin in der Diskussion – das zeigen die Medien. Spielzeugfirmen der Kolonialzeit haben Rassismus im Spielzeug dargestellt. Das bedeutet nicht, dass die Spielzeughersteller der vorletzten Jahrhundertwende alle Rassisten waren. Sie waren Menschen ihrer Zeit, so wie wir das heute auch sind. Spielzeugmuseen sind deshalb so genial für Welt- und Selbsterkenntnis, weil Spielzeug die Welt für Kinder begreifbar macht. Und heute – rückblickend – erkennen wir historische Gesellschaftsstrukturen und wie sie sich bis in unsere Gegenwart hinein bemerkbar machen.

Es bleibt die Frage, was für Sie der Perspektivwechsel bedeutet?
 Mein eigener Perspektivwechsel hat begonnen, als ich mit zehn Jahren zum ersten Mal in Afrika und mit elf Jahren zum ersten Mal in den USA war. Mit 16 habe ich meinen ersten Anti-Rassismus-Workshop erlebt, war mit 17 Jahren ein Jahr lang Austauschschülerin in den USA und lebte und arbeitete mit 19 Jahren in Mittelamerika. Kulturrelativismus und die Problematik euro- und ethnozentristischer Weltsichten beschäftigen mich schon mein Leben lang. Mich interessiert dabei, was uns Menschen verbindet, welche „anthropologischen Konstanten“ es auf der Welt gibt. Das Trennende ist nicht spannend. Das Gemeinsame und Spielerische ist das, was uns Spielzeug-Menschen auf der ganzen Welt verbindet. Das wird auch der neue inhaltliche „rote Faden“ des Spielzeugmuseums in Nürnberg werden. Wenn das Spielzeugmuseum es schafft, die Gedanken in den Köpfen von Menschen zärtlicher zu machen, dann ist der Perspektivwechsel gelungen.

„Wie reagieren?“ Die Spielzeugmuseum reagierte zum einen, indem die Museumsleiterin mit unterschiedlichen Gruppen und mit „neuem Blick“ durch die Ausstellungsräume in der Nürnberger Karlstraße ging. Fragwürdige Objekte wurden entfernt, selbst im Depot (per Internet zugänglich) wurden 70 problematische Spielwaren entdeckt. In Nürnberg wurde am 15. Juli 2021 eine eigene Ausstellung zum Thema (anti)rassistischen Spielzeugs eröffnet. Und eine Neukonzeption wird problematische Spielzeuge neu erklären. Sie werden nicht tabuisiert. Außerdem nahmen alle Museumsmitarbeiter*innen an einem Workshop von Jürgen Schlicher teil, in dem es um Nicht-Diskriminierung und Diversity Management ging.

Viele dieser „problematischen Spielzeuge“ werden Besucher zu sehen bekommen. Sie werden diese Objekte jetzt kommentieren. Gibt es auch Objekte, die Sie keinesfalls wieder zeigen würden?
Beim Thema Rassismus arbeiten wir mit Menschen zusammen, die Rassismus-Erfahrungen haben. Wir als Museums-macher*innen schreiben die wissenschaftlichen Texte dazu. Unsere Kommunikation ist breit angelegt, denn ins Spielzeugmuseum kommen Kinder, Jugendliche, Erwachsene, bildungshungrige Menschen ebenso wie hochdifferenzierte Menschen. Wir arbeiten mit schwarzen Künstlerinnen zusammen, die die rassistischen Spielzeuge in ihrer künstlerischen Gestaltung verändern, ihnen Kraft verleihen. Zum Beispiel bekommt die „Schwarze Spardose“, der sogenannte „Geldfresser“, einen ästhetischen Mund statt der aktuell weit aufgerissenen Lippen. Der „Alabama Coon Jigger“ hält die Feder seines Federmotors in der Hand – als Symbol dafür, dass er selbst entscheidet, wann er tanzt. Es gibt ein Objekt, das ist so herabwürdigend für schwarze Menschen, dass wir uns gemeinsam entschieden haben, es nicht wieder zu zeigen. 
 
Sie sind sensibilisiert. Was würden Sie Branchen-Kollegen*innen mit auf den Weg geben, falls die sich heutzutage ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sähen?
Wir erarbeiten aktuell einen Fahrplan für anti-rassistisches Kuratieren in kulturhistorischen Museen. Der Fahrplan basiert auf unseren wissenschaftlichen Recherchen und Erkenntnissen, die wir in der konkreten Auseinandersetzung mit den rassistischen Objekten im Spielzeugmuseum erarbeitet haben. Wir abstrahieren unsere Forschungen und stellen sie auf ein allgemeines Niveau, damit sie von Kolleginnen und Kollegen in kulturhistorischen Museen und in der Spielwarenbranche genutzt werden können. Der Rassismus-Vorwurf ist immer eine Keule – und wir weißen Deutschen brauchen trotz aller Sensibilität die Unterstützung und den Blick von schwarzen Menschen, um uns unserer eigenen kleinen Alltagsrassismen bewusst zu werden. Rassistisches Denken steckt unbewusst in uns – und das meinen wir oft auch nicht böse. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Deshalb haben wir uns pro-aktiv dafür entscheiden, dem Rassismus wissenschaftlich zu begegnen und ihm damit seine Macht zu nehmen. Das funktioniert!