Fokus – Mehr Wildnis im Spiel

14. Juni 2019, 10:10

Dass Spielen für die geistige und körperliche Entwicklung wichtig und unablässig ist, ist seit langem bekannt und wurde von namhaften Vertretern aus Neuro- und Kulturwissenschaft beschrieben und belegt. Die Autorinnen des nachfolgenden Beitrags setzen sich daher vor allem mit der Vielfältigkeit des Spiels auseinander.

Spiel und Spielen ist im steten Wandel, immer wieder gibt es neue – zumeist – temporäre Trends, die sich mal mehr und mal weniger etablieren. Spielen steht in engem Zusammenhang mit der Gesellschaft und ihrer Kultur, bestimmte Spiel-Arten entwickeln sich erst aufgrund innovativer, beispielsweise technischer Rahmenbedingungen. Auf diese Weise entstehen im Spiel immer wieder neue, fantastische Möglichkeiten: Das Eintauchen in ganz eigene Welten, verbunden mit dem Erleben von Freude und Erfolg, aber auch von Enttäuschung, von Anspannung und Entspannung; das Erleben der eigenen Kreativität – allein oder im Kontakt zu Menschen, Tieren oder Objekten, gepaart mit der Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Spiel ist immer im Kontext zu betrachten, nur so kann sein individueller Charakter erfasst werden.

Bedeutung von Spiel und Diversität

Im Spiel kann Neues ausprobiert und können Regeln neu verhandelt werden. Die Spielenden gestalten einen dynamischen Prozess, sie tun dies gemeinsam und in der Begegnung mit anderen. „Als-Ob“-Situationen werden erprobt, neue Realitäten werden erlernt und gestaltet.

(Bild: librestock.com)

Ein entscheidender Faktor für Spiel ist die Gestaltungsrolle der Spielleitung. Dadurch, dass Spielräume geschaffen, Spiele ausgewählt und erläutert werden, finden unterschiedliche Zielgruppen Zugang oder werden ausgeschlossen. Umso wichtiger ist, dass sich eine Pädagogik, die sich mit Spielen befasst, mit ihrer eigenen Haltung in unserer Gesellschaft auseinandersetzt. Die Voraussetzung ist, eine hohe Sensibilität für soziale Konstrukte und die Bewertungen von Menschen, zu entwickeln, um beispielsweise einer Diskriminierung entgegenzuwirken. Nur eine Haltung, die eine objektive Einschätzung ermöglicht, gibt der Diversität als positive Ressource Raum.
Spielwelten sind immer Bildwelten. Sie arbeiten mit Figuren, Inszenierungen, Identitätskonstruktionen und Narrativen. Das macht sie so vielseitig und wandelbar. Kinder tauchen in ihre Spielwelten ein, erforschen sie und grenzen sich so bewußt ab. Die Wirklichkeit und die Spielwelten werden als komplexer Prozess begriffen, innerhalb dessen man sich im Dialog miteinander nähert. Diese Grundhaltung ist Kern und Ausgangspunkt der Angebote im Fachbereich Spiel an der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid.

Spiel und Raum: die Sinnhaftigkeit der Inszenierung

Der spielerische Umgang mit Raum, mit „Spiel-Raum“, das Besetzen und Erobern von öffentlichen Plätzen und Orten, die Gestaltung und Inszenierung derselben, der Kampf für Freiräume und Naturräume, das Verschmelzen von analogen und digitalen Räumen – das gehört zur Auseinandersetzung mit Raum als Ressource und Ort für die Entfaltung von Spiel und spielerischen Identitäten.
Cosplayer nehmen durch die Inszenierung ihrer Körper als digitale, mediale Spielfiguren den öffentlichen Raum ein. Das Zur-Schau-Tragen von auffallenden, meist selbstgeschneiderten Kostümen trägt dazu bei. PokemonGo-Spielende sorgten und sorgen so durch kuriose Aktionen für Aufmerksamkeit und Belustigung in den Medien.
Exit Rooms findet man nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen, sie verlagern sich ebenfalls in den Stadtraum, beziehen authentische Orte und Personen ein und variieren in ihren Größen und Thematiken. Der Weg des Ausbrechens vermittelt durch fantastische Rätsel- oder Storytelling-Elemente nicht nur neue Erfahrungen, sondern auch Wissen. Auf abgesteckten Geländen treffen sich Menschen zu Live Action Role Plays (LARPs), um in neue Identitäten zu schlüpfen und diese auszuleben. Geocaching führt Menschen zu kleinen Abenteuern in verschiedene Gelände, lässt (Stadt-)Geschichten erlebbar werden, lockt mit Rätseln und Tricks und führt Menschen zu interessanten Orten und Plätzen. „Undercover“ wird großgeschrieben – die klassische Schnitzeljagd und das Versteckspielen werden zum Abenteuer.
Das alles sind Phänomene, die nicht nur der jungen Generation zugeschrieben werden können. Sie finden durch ihre Verbreitung in sozialen Medien Nachahmer aus fast allen Altersgruppen und rücken diese Form des „Spiels“ ins öffentliche Bewusstsein. Orte, Plätze und (virtuelle) Räume sind hier untrennbar mit Spiel verknüpft. Es ist ein Wechselspiel der Elemente – Spielen gestaltet Raum, Raum gestaltet Spiele, alles wirkt wechselseitig auf die Spielenden.

Spielraumgestaltung – wie normiert sind wir eigentlich?

Rücken wir nun die Spielräume ins Blickfeld. Wir leben in einem Land der DIN- Verordnungen, einer zunehmend institutionalisierten Kindheit, die wenig Raum zur freien Entfaltung lässt. Die meisten (Spiel)Aktionen haben zugeschriebene Funktionsräume: der Maltisch, die Spielecke, der Garten, die Wasserbaustelle. Vieles ist reglementiert: Fußball wird hier gespielt – gehüpft wird dort … Der Außenraum darf nur zum Spielraum werden, wenn Funktionsflächen nicht beeinträchtigt werden und sich Gefahren auf ein Minimum reduzieren lassen. Das kindliche „Draußenspielen“ ist oft nur noch Teil institutionalisierter, überwachter Ganztagsbetreuung.
Der Alltag der Kinder und Jugendlichen von heute unterscheidet sich erheblich vom Erleben und Spielen früher: Alltag, Material und Technik unterliegen einem ständigen Wandel; die zu vermittelnden Werte orientieren sich zunehmend an Leistung und Erfolg; eine gute (Aus)Bildung ist Ziel der Entwicklungspläne, wird jedoch meist nur anerkannt, wenn sie in nachweisbaren Bahnen verläuft. Autonome Alltagsspielereien gehören nicht dazu. Eigens kreierte Räume sind selten relevant, wenn von „Bildung“ die Rede ist. Wenn Spiel aber als kulturelles Element verstanden werden soll und Kultur eng mit Bildung verknüpft ist, lassen sich diese Begrifflichkeiten nicht mehr getrennt denken.

(Bild: librestock.com)

Identität und Wildnis: Die Wichtigkeit von Freiräumen

Mit Blick auf Kinder und Jugendliche, muss eine neue, ganzheitlichere Betrachtungsweise im Prozess des Heranwachsens gelten: Wenn Spiel auch Bildung bedeutet und Spiel und Raum sich wechselseitig beeinflussen und gestalten, so müssen sie als identitätsstiftende Elemente verstanden werden. Neue digitale Spielarten kreieren beispielsweise Welten, die mannigfaltige Möglichkeiten bieten, sich und die Umwelt neu und anders zu kreieren.
Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind durchzogen mit Bildern von Heldinnen und Helden und deren Gegenspielern. Beliebte Serien, Games, Kinderbücher, Brettspiele, Comics konstruieren Figuren mit Tugenden, Werten, mit heroischen und alltäglichen Eigenschaften. In sie einzutauchen, stiftet Identitäten und schafft Abgrenzungen. So werden Räume erobert und gestaltet. Ohne Frei-Räume, die neu und anders genutzt und bespielt werden dürfen, sind diese Prozesse schlichtweg nicht möglich. Held*innen, gleich welcher Couleur, benötigen ein Terrain, das sie entdecken und sich aneignen können. Auf diese Weise werden völlig neue Kommunikations- und Transformationsprozesse in Gang gebracht.

Fazit: Spielen ist bei Weitem keine Spielerei. Es umfasst und berührt viele wesentliche Bereiche menschlichen Seins und Wirkens, es wirkt auf unsere Identität und unsere Lebens-Räume – persönlich wie gesellschaftlich, unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft. Es ist unsere Aufgabe, für mehr freie Spiel-Räume zu sorgen. Für die Vielfalt im Wesen und in den kreativen Möglichkeiten. Eine Freiheit, in der es noch etwas „Wildnis“ gibt, in der sich die Autonomie der SpielheldInnen ausbilden kann. Dann lässt sich Spielen zu dem machen, was es ist: ein multidimensionaler Zauberwürfel kreativer Inszenierungen.