Fokus: Erziehen wir Narzissten?
Eltern wollen für ihre Sprösslinge nur das Beste, vermitteln ihnen wie wertvoll und vollkommen sie sind. Leider reagieren Kinder auf eine übersteigerte Wertschätzung aber häufig mit Persönlichkeitsauffälligkeiten, zeigen narzisstische Züge. Welche Rolle Erziehung dabei spielen kann, erläutert Psychotherapeutin und Buchautorin Helene Drexler im nachfolgenden Interview mit Astrid Specht.
Frau Drexler, was genau ist Narzissmus beziehungsweise eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und weshalb scheint diese Diagnose inzwischen immer häufiger gestellt zu werden?
Narzissmus hat mit einem unsicheren Selbstwert zu tun. Einen guten Selbstwert haben heißt: Ich habe Stärken, ich habe Schwächen und ich stehe insgesamt zu mir. Und versuche, das, was ich gut kann, umzusetzen und mit den Schwächen umzugehen. Die narzisstische Person hat, obwohl sie nach außen selbstsicher wirkt, keinen guten Selbstwert, weil sie Schwächen nicht zulassen kann. Im Inneren zweifelt sie an sich und versucht diesen Zweifel mit folgenden, typischen Erlebens- und Verhaltensweisen zu kompensieren: übergroßer Selbstwert, Egozentrik, reduzierte Emotionalität und Kränkbarkeit. Narzisstische Menschen reagieren auf Infragestellungen jeder Art, egal ob offene Kritik oder auch einfach nur ein „Nein“, sehr sensibel und bevorzugt mit Aggression.
Es gibt unterschiedliche Ausprägungen des Narzissmus, von der (gesunden) Persönlichkeitsstruktur bis zur schweren Persönlichkeitsstörung. Während bei der (gesunden) narzisstischen Persönlichkeitsstruktur die Vorzüge wie Für-sich-eintreten-können oder Sich-seines-Wertes- bewusst-sein überwiegen, treten bei der Störung bereits Schwierigkeiten in den Vordergrund und gipfeln bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung in der Überzeugung, anderen überlegen zu sein und Anspruch auf besondere Behandlung zu haben. Beziehungen werden ausschließlich zum eigenen Vorteil genutzt und eine übermäßige Wut bei Kritik kann sogar mitunter zur sozialen oder wirtschaftlichen Vernichtung des „Gegners“ führen.
Forschungen zeigen, dass narzisstische Störungen häufiger werden, obwohl Eltern und Pädagog*innen so stark wie noch nie am Wohl der Kinder orientiert sind. Es lässt sich aber beobachten, dass die gut gemeinten Absichten mitunter übers Ziel hinausschießen. Wenn Eltern für ihr Kind alles perfekt machen wollen, es keine Grenzen erleben soll, nur das Beste gut genug ist – alles mit dem Ziel, dass sich das Kind perfekt entwickelt, dann entsteht ein Problem. Zum einen, weil ein solcher Anspruch nicht realistisch ist und das Kind enorm unter Druck setzt. Zum anderen, weil Kinder instinktiv spüren, dass es nicht um sie selbst und ihre ganz eigene Persönlichkeit geht, sondern, dass die Eltern ihre Vorstellung von einem perfekten Kind verfolgen. Auch dann nistet sich ein Zweifel ein, der Keim für den Narzissmus.
Welche elterlichen Erziehungsmethoden fördern die Entwicklung einer solchen Persönlichkeitsausprägung bei Kindern und welche verhindern dies?
Narzissmus entsteht immer aus einem Zwiespalt, den der heranwachsende Mensch erlebt. Auf jeden Fall hat er erlebt, dass er wichtig ist, dass er eine Bedeutung für andere, seine Eltern hat. Jemand, der nur abgewertet wurde, entwickelt keinen Narzissmus. Aber dann kommt der Zweifel dazu, der Motor für den Narzissmus.
Diese Situationen sind heute in den Familien allgegenwärtig. Zum Beispiel: Die Eltern vermitteln ihrem Kind, alles an ihm ist wunderbar, aber in der Schule erfährt es, dass es auch Schwächen hat oder dass Kinder nicht mit ihm spielen wollen. Das ist sehr irritierend für ein Kind. Oder, ein Kind wird zu Hause als großes Geschenk erlebt, in der Schule aber gemobbt. Welche Sichtweise stimmt nun? Besonders nach Scheidungen tritt häufig die Situation ein, dass das Kind als Partnerersatz missbraucht wird. Es wird auf ein Podest gehoben, spürt aber gleichzeitig dem nicht gewachsen zu sein. Überall dort nistet sich der Zweifel ein. Bin ich nun super oder doch das Gegenteil? In der Folge versuchen junge Menschen das, was sie an Wert erfahren haben, zu schützen, indem sie einen überdimensionalen Selbstwert entwickeln und den Zweifel bekämpfen, indem sie nichts an sich heranlassen, das diesen brüchigen Selbstwert bedroht.
Auf 152 Seiten beschreibt und analysiert die Wiener Psychotherapeutin Helene Drechsler in ihrem Buch „Der große Erziehungsirrtum“, warum gerade die besten Erziehungsabsichten Kinder zu Narzissten machen können. Sie gibt Eltern auch Möglichkeiten an die Hand, wie sie dieser Entwicklung vorbeugen können. Das Buch ist im Delta X Verlag erschienen.
Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, Kinder also bereits Züge von Narzissmus zeigen, was können Eltern dann tun, um diese Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren?
Zentral für die Selbstwertentwicklung des Kindes ist die Wertschätzung. Sie beinhaltet Respekt, Wahrung der Grenzen des Kindes und – das Wichtigste – das Kind in seiner ganz eigenen Persönlichkeit zu erfassen. Diese Aspekte sind auch von Bedeutung, wenn Eltern bereits narzisstische Verhaltensweisen ihres Nachwuchses wahrnehmen. Die Herausforderung ist hier, nicht an etwas Bestimmtem hängenzubleiben, sondern in einem Gesamtblick die spezielle Persönlichkeit dieses jungen Wesens wahrzunehmen und als schätzenswert zu erleben. Wenn das gelingt, dann können Eltern ihre Führungsrolle bewusst und respektvoll übernehmen.
Bei der Führungsrolle sind zwei Aspekte zu beachten: Erstens, laufend einzuschätzen, was das Kind gemäß seines Alters und seiner Fähigkeiten in der jeweiligen Situation braucht. Es zum einen zu schützen, aber auch Grenzen zu setzen, zum anderen ihm etwas zuzutrauen oder sogar zuzumuten. Damit lernt das Kind ganz wichtige Fertigkeiten wie Frustrationstoleranz oder auch mit verschiedenen Emotionen, auch unangenehmen, umzugehen.
Zweitens dem Kind auf Basis der prinzipiellen Wertschätzung Rückmeldung zu geben. Etwa zu sagen: „Das war super!“ aber auch „Du, ich glaube, das ist nicht gut für dich!“
Vor dem Grenzen setzen und Rückmeldung geben schrecken heute viele Eltern zurück, weil sie es mit Anmaßung und Übergriffigkeit gleichsetzen. Tatsächlich aber bekommen Kinder dadurch Leitlinien, in deren Schutz sie sich erproben können und Orientierung für ihren Selbstwert finden, was ja eigentlich das Ziel von Eltern und Pädagog*innen ist.