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Fokus: Die deutsche Kinderkrise

24. April 2024, 16:18

„Kinder kriegen die Leute immer“ – der vielzitierte Spruch des früheren Bundeskanzlers Konrad Adenauer ist schon lange widerlegt. Der Geburtenrückgang ist mit wenigen Ausnahmen mittlerweile ein globales Problem. In Deutschland ist mit dem anhaltenden Bevölkerungsschwund der Wohlstand der Gesellschaft gefährdet, wenn keine Trendwende einsetzt. Hier sind Politik, Wirtschaft und jeder Einzelne gefordert. Ein Plädoyer des Bundesverbands Deutscher Kinderausstattungs-Hersteller e. V. (BDKH) für mehr Kinder.

Ein wenig Geburtenschwund ist bei der anhaltenden Überbevölkerung weltweit doch gar nicht verkehrt, möchte man meinen. Was für die Erde in Gesamtsicht stimmt, ist für einzelne Länder aber ein Problem. Eine vor kurzem im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlichte Studie prognostiziert, dass die Bevölkerung in 198 von 204 Ländern der Welt bis zum Jahr 2100 schrumpfen wird. Das Forscherteam unter der Leitung des Institute for Health Metrics and Evaluation der University of Washington in Seattle sagt zudem voraus, dass Ende dieses Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Kinder auf unserem Planeten südlich der Sahara geboren werden wird. Der Babyboom in Afrika wird den Nachwuchsmangel in Europa nicht lindern. Auf unserem Kontinent wird ein Drittel der jungen Generation fehlen, mit sozialpolitisch und wirtschaftlich gravierenden Auswirkungen.
Die Geburtenraten in ganz Europa sind seit langem niedrig. In Deutschland war der Geburtenrückgang in den vergangenen zwei Jahren aber noch einmal besonders drastisch. Einfluss darauf haben das Geburtenverhalten, aber auch die Zahl der potenziellen Mütter. Nach einem Höchststand der Geburten Mitte der 60er-Jahre, hatten sich die Zahlen mit der Verbreitung der Antibabypille bis 1975 bei etwa 780.000 Babys pro Jahr eingependelt. Zwischen 1964 und 1975 sank die Geburtenziffer in Westdeutschland von 2,54 auf 1,45 Kinder je Frau. Familienpolitische Reformen ab 2015 und die Corona-Krise mit ihrem Cocooning-Effekt hoben diese Zahl kurzfristig auf 1,5 bis 1,6 Kinder an. 2022 erlebte bei 7,1 Prozent weniger Geburten als im Jahr zuvor einen Einbruch. Und auch im vergangenen Jahr (Januar bis November) ist die Geburtenrate in Deutschland nach Angaben von Bevölkerungsforschern erneut um etwa sieben Prozent im Vorjahresvergleich gesunken – auf 1,36 Kinder pro Frau. Um die Elterngeneration zu ersetzen, müssten Frauen durchschnittlich 2,1 Kinder haben.


Dr. Alessandro Zanini, BDKH-Vorstandsvorsitzender

„Der demografische Wandel wird
die gesellschaftliche Entwicklung
tiefgreifend verändern.“

Dr. Alessandro Zanini, BDKH-Vorstandsvorsitzender


Migration hilft wenig
Zwei Effekte kaschieren aktuell den Bevölkerungsschwund: die steigende Lebenserwartung der Deutschen, die bei fehlenden Kindern zu einer überalterten Gesellschaft führt, und die erhöhte Zuwanderung in jüngster Zeit. Die Migration allein kann den kommenden Bevölkerungsrückgang jedoch nicht ausgleichen. Dafür müssten jedes Jahr rund 350.000 Menschen nach Deutschland einwandern. Um zusätzlich die Alterung der Gesellschaft zu kompensieren, wären sogar 3,6 Millionen Einwanderer pro Jahr nötig – von den notwendigen Unterkünften und Integrationsmaßnahmen ganz zu schweigen.
Bis zum Jahr 2050 sagt die Forschung ein drastisches Geburtendefizit voraus. Bis dahin sinkt auch die Zahl der potenziellen Erwerbstätigen von heute rund 42 Millionen auf unter 30 Millionen. „Der demografische Wandel wird die gesellschaftliche Entwicklung tiefgreifend verändern und dazu führen, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstum absinkt oder sogar negativ wird“, warnt Dr. Alessandro Zanini, BDKH-Vorstandsvorsitzender. „Schon aus diesem Grund muss sich eine schrumpfende Gesellschaft dem Problem der niedrigen Geburtenzahlen stellen.“ Bislang wurde Familienpolitik aber lediglich als ein wechselndes Bündel von Finanzhilfen verstanden. Den vielfältigen Ursachen wachsender Kinderlosigkeit steht man hilflos gegenüber, während sich die sogenannte Bevölkerungspyramide Jahr für Jahr mehr in einen Pilz verwandelt, der nur noch auf dünnen „Kindesbeinen“ steht.

Work-Life-Balance statt Doppelbelastung
Warum fällt den Deutschen die Entscheidung für ein Baby so schwer? Waren Kinder früher Garant für die Alterssicherung der Eltern, stellen sie heute viele Jahre lang eine erhebliche finanzielle Belastung dar. Kinder sind für Paare nicht mehr die Norm. Denn sie gefährden einen bereits liebgewonnenen Lebensstil und führen in der Paarbeziehung bekanntlich zu Konflikten. Zwar werden Kinder meist als eine Bereicherung im Leben ihrer Eltern und Familien empfunden, dennoch führen sie insbesondere für Frauen nach wie vor zu beruflichen Nachteilen oder gar einem Karriereknick. Folgte vor einigen Jahrzehnten nach der Geburt eines Kindes meist eine mehrjährige oder gar dauerhafte Unterbrechung der Erwerbstätigkeit der Frau, ist diese heute der beruflichen und familiären Doppelbelastung ausgesetzt. Dann doch lieber eine Work-Life-Balance ohne Kids. Denn die neuen Väter sind rar. Kaum ist der Nachwuchs da, ist häufig eine Rückkehr zu traditionellen Rollen zu beobachten. Die Mütter übernehmen den Großteil der Fürsorge für das gemeinsame Kind und leisten nach wie vor deutlich mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Stichwort Gender Care Gap. Im Schnitt verbringen Frauen in Deutschland 44 Prozent mehr Zeit mit sogenannter Sorgearbeit, täglich eine Stunde und 17 Minuten mehr. Darauf haben besonders hochqualifizierte Frauen keine Lust, weshalb Akademikerinnen überdurchschnittlich häufig kinderlos bleiben: Bei den Ende der 1960er-Jahre Geborenen mit Hochschulabschluss ist es etwa jede Dritte.
Und überhaupt – in Deutschland sind Eltern der Dauerkritik ausgesetzt. Unabhängig für welche Betreuungsform sie sich entscheiden – Arbeitnehmer-Mütter gelten als Rabenmütter oder Vollzeitmütter oder -väter als rückständige Heimchen am Herd (Frauen) und Weicheier (Männer). Und wer mehr als zwei Kinder hat, ist sowieso asozial.


„Ergänzend sollte eine Kultur herrschen, die an Kindern ausgerichtet ist.“

Michael Neumann, BDKH-Geschäftsführer

Michael Neumann, BDKH-Geschäftsführer

Egg Freezing und sinkende Fruchtbarkeit
Auf der Suche nach dem besten Zeitpunkt schieben Paare den Kinderwunsch solange hinaus, bis es zu spät ist. Um der biologischen Uhr zuvorzukommen und dennoch in der Rushhour des Lebens alles unter einen Hut zu bekommen, wird Social Egg Freezing als Lösung für das späte Wunschkind immer populärer. Dann, wenn Karriere, Partner, Urlaubsreisen und das Eigenheim mit Kinderzimmer klargemacht sind, kann das Kind kommen. Aber auch ohne Tiefkühl-Eizellen steigt das Erstgeburtsalter von Frauen immer weiter an und liegt derzeit bei rund 31 Jahren. Auch ungewollte Kinderlosigkeit spielt eine wachsende Rolle beim Geburtenrückgang. Schädliche Umwelteinflüsse oder Volkskrankheiten wie Diabetes oder Übergewicht schaden der Fruchtbarkeit merklich. Vor kurzem kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron einen Maßnahmenplan für die „demografischen Aufrüstung“ der Nachbarrepublik an, zu der auch eine kostenlose Fruchtbarkeitsuntersuchung für junge Menschen zählen soll.
Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie etwa die Verfügbarkeit von Kitaplätzen, Ganztagsschulangeboten oder die Unterstützung des Arbeitgebers bei familienbedingten Pausen spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entscheidung für ein Kind. Denn vielen jungen Eltern fehlt durch berufsbedingte Umzüge ein tragfähiges soziales Netz für die Betreuung von Kleinkindern. Hier kann man mit wirksamen Maßnahmen ansetzen. „Ergänzend dazu sollte eine Kultur herrschen, die an Kindern ausgerichtet ist, ein positives Bild von Familien mit Kindern zeichnet und vor allem die Wertschätzung für ihren wichtigen Beitrag in der Gesellschaft ausdrückt. Dazu kann jeder Einzelne beitragen“, wünscht sich Michael Neumann, BDKH-Geschäftsführer. Nur schwer zu beeinflussen sind andererseits Bedrohungen wie Klimawandel, Ukrainekrieg oder eine Pandemie. Diese großen Krisen führen bei jungen Menschen zu einer Verunsicherung, die sich auch auf ihre Lebensplanung auswirkt. Bevölkerungsforscher vermuten, dass der jüngste dramatische Geburtenrückgang in Deutschland auch darauf zurückzuführen ist.
Wie wahrscheinlich ist eine Trendwende bei den Geburtenzahlen in Deutschland? Das Familiendemografische Panel FReDA erfragte bei jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren den Kinderwunsch: Die meisten Befragten möchten Kinder und die meisten möchten eigentlich auch zwei Kinder haben. Das macht Hoffnung.

Lioba Hebauer


Das fordert der BDKH

Familien und Kinder müssen in viel größerem Maß als bisher in den Fokus rücken, denn sie sind das Fundament unserer Gesellschaft. Je mehr Familien Unterstützung erfahren, desto eher können sie ein schier unbezahlbares Gut bieten: einen guten Start ins Leben mit einer glücklichen Kindheit als Basis für eine starke, stabile Persönlichkeit. Intakte Familien sind das soziale Netz, in dem sich erwachsene Kinder später auch um unterstützungsbedürftige Ältere kümmern. Zur Familie gehören alle familiären Lebensformen, die gleichberechtigt anzuerkennen sind.
Michael Neumann: „Die Förderung von Eltern, Kindern und Jugendlichen sollte ab sofort Leitprinzip für alle relevanten Entscheidungsträger sein. Wir können in der Familienpolitik nicht immer den Rotstift ansetzen und uns dann darüber wundern, dass junge Menschen lieber kinderlos bleiben.“
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, vor allem die Betreuung in Krippen, Kitas und Schulen, müssen flächendeckend angeboten werden, verlässlich und bezahlbar sein. Wichtig ist es, eine gesellschaftliche Akzeptanz von arbeitenden Müttern und Fremdbetreuung zu erreichen. Kinder müssen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer elterlichen Unterstützung zudem bestmögliche Bildungschancen erhalten.
Die finanzielle Förderung und Entlastung von Familien sollte die Wertschätzung für ihre gesellschaftliche Leistung widerspiegeln, die die Erziehung von Kindern darstellt. Eltern müssen sich die notwendige Kinderausstattung auch weiterhin leisten können, auch um bei sicherheitsrelevanten Produkten nicht auf Second Hand-Ware unsicherer Herkunft zurückzugreifen. Die Angebote auf dem Wohnungsmarkt sollten für Familien mit Kindern bezahlbar bleiben. Die Gestaltung der Städte und des ländlichen Raums muss ein gesundes und sicheres Aufwachsen ermöglichen.
Die Entscheidung für ein oder mehrere Kinder darf keine beruflichen, gesellschaftlichen oder finanziellen Nachteile bis hin zum Armutsrisiko nach sich ziehen. Arbeitgeber müssen ihre Personalpolitik etwa über familienfreundliche Arbeitszeitmodelle auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden mit Kindern ausrichten.