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Familiensache – Berufe rund ums Kind – „Dass es sowas noch gibt“

13. September 2019, 19:00

Schokolade testen, Kuscheltiere designen, Kinderhotels führen … Eine Menge Berufe drehen sich um den Kosmos „Familie“. In unserer Interviewreihe „Familiensache“ sprechen wir mit Menschen, die sich hauptberuflich oder ehrenamtlich für Kinder und/oder Eltern engagieren. Diese Reihe gibt uns die Möglichkeit, heutige Familien aus immer wieder neuen Blickwinkeln zu betrachten. In dieser Ausgabe im Gespräch: Irmi Baumann, die mit ihrer fast hundert Jahre alten Drehorgel die Tradition der Moritatenerzählungen fortführt.

Irmi Baumann, 49, Mutter einer dreizehnjährigen Tochter und von Beruf Gesundheitscoach, hat ein ungewöhnliches Hobby: Mehrmals im Jahr tritt sie als Moritäterin auf. In einem schwarz-roten Kostüm singt sie dann mit Begeisterung und viel Engagement alte Lieder und spielt auf ihrer Drehorgel. Die Moritat ist ein Erzähllied, das vor vielen hundert Jahren von sogenannten Bänkelsängern vorgetragen wurde. Die Sänger zogen von Dorf zu Dorf und so diente der Bänkelsang früher nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Nachrichtenübermittlung.

Frau Baumann, der Moritätengesang hat eine alte Tradition. Er begann im 17. Jahrhundert und endete im frühen 20. Jahrhundert.Heute, im Zeitalter von iPod und Netflix ist diese uralte Form der Unterhaltung wieder hip?
Ja, wir spüren seit einigen Jahren ein wachsendes Interesse. Meine Drehorgel ist vor allen in den Wintermonaten so ausgebucht, dass es sich gar nicht lohnt, sie aus dem Auto zu nehmen. Nach den 30er-Jahren hatte der Moritatengesang in Deutschland nur noch wenig Anhänger, starb aber auch nie völlig aus. Kaum einer hat damit gerechnet, dass die Drehorgel wieder so beliebt sein würde.

Wo treten Sie auf?
Auf Stadtgründungsfesten, Weihnachtsmärken …

… Viktualienmarkt?
Nein, das ist der einzige Ort in München, wo keine Drehorgel gespielt werden darf.

Auf Kindergeburtstagen?
Ja, es gibt zunehmend Anfragen für private Feiern. Früher war die Drehorgel eigentlich nur bei traditionellen Festen wie der Auer Dult eingebunden. Heute leisten sich das auch Privatleute.

Wie erklären Sie sich die Popularität?
Die Menschen lieben das Einfache, sie spüren, dass die Klänge der Drehorgel ihrer Seele guttun. Es ist ein anderes emotionales Erleben als Lady Gaga aus dem iPhone. Und natürlich ist es auch ein nostalgisches Erleben. Die Zuhörer kommen oft mit glänzenden Augen zu mir und sagen: „Das es sowas noch gibt.“

Warum verwandeln Sie sich immer wieder in eine Moritäterin?
Es ist ein wundervolles Hobby. Menschen unterschiedlichster Generationen versammeln sich vor meiner Drehorgel und fangen an zu singen. Den Menschen geht die Seele auf. Und es gibt immer jemanden, der zunächst meint, er könne nicht singen. Das sind dann die, die soviel Spaß daran haben, dass sie nicht mehr aufhören wollen. Und wir bewahren eine uralte Tradition, altes Liedgut.

Die Drehorgel hat ihren Auftritt auf der Nürnberger Spielwarenmesse sowie in Kinderfilmen wie Pippi Langstrumpf. Kein Instrument ist in der Kinderwelt so sehr verankert wie die Drehorgel.
Es ist dieses unbeschwerte Moment, das von einer Drehorgel ausgeht, diese lebensfrohen und ja diese ungewohnt fröhlichen Melodien.

Haben Kinder heute einen anderen Blick auf die Drehorgeln als früher?
Für die Kinder sind Drehorgeln heute fremder und damit faszinierender denn je. Aus einer Holzkiste kommt Musik raus? Ohne Stromkabel? Wie funktioniert das denn? Und wozu wird von oben ein gestanztes Papier eingelegt? Kinder finden das wahnsinnig spannend. Eben weil es sich von der modernen Unterhaltungselektronik so sehr unterscheidet.
Das bezieht sich auch auf den zwischenmenschlichen Aspekt. iPhones, iPods und Kopfhörer – diese modernen Medien haben schon etwas sehr Isolierendes. Kinder kennen es gar nicht mehr, dass Menschen in der Öffentlichkeit gemeinsam singen. Dieses soziale Miteinander, das die Drehorgel mit sich bringt, erleben Kinder als etwas völlig Neues.