Eco – Die Zeit ist reif
Die NGO Cradle to Cradle setzt sich seit 2012 dafür ein, dass Produktionsprozesse in verschiedenen Wirtschaftszweigen nicht nur Schritt für Schritt nachhaltiger, sondern sogar Teil einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft werden. Wie das funktionieren kann, hat Astrid Specht von Geschäftsführer Tim Janßen erfahren.
Herr Janßen, Sie haben 2012 die NGO „Cradle to Cradle“ gegründet. Was genau bedeutet der Begriff und worum geht es bei Ihrer Arbeit?
Cradle to Cradle bedeutet übersetzt „von der Wiege zur Wiege“ und steht für eine geschlossene Kreislaufwirtschaft. Im Gegensatz zu unserer heutigen linearen Wirtschaftsweise, die Cradle to Grave, also „von der Wiege zur Bahre“ funktioniert, halten wir nach C2C alle Materialien in biologischen oder technischen Kreisläufen. Dafür müssen alle Produkte für ihr spezifisches Nutzungsszenario designt und produziert werden. Wenn Teile eines Produkts, etwa durch Abrieb oder Verschleiß, in die Umwelt geraten können, dann müssen diese Teile biologisch abbaubar sein.
Produkte, deren Bestandteile nicht in die Umwelt gelangen können, müssen so designt und produziert sein, dass alle Bestandteile sortenrein getrennt und recycelt werden können. Die Materialien können dann im technischen Kreislauf zirkulieren und sind immer wieder Nährstoff für ein neues Produkt. Als Cradle to Cradle NGO beschleunigen wir durch unsere Arbeit die Umsetzung von Cradle to Cradle: Wir treiben Ideen voran, mit denen wir Menschen zu Nützlingen werden. Das geschieht durch Veranstaltungen und Gespräche im Rahmen unserer Bildungs- und Vernetzungsarbeit, aber auch durch das Anstoßen von wegweisenden C2C-Projekten.
Wir wissen schon sehr lange um den menschengemachten Klimawandel und die Endlichkeit von Rohstoffen, weshalb also erkennen wir die Dringlichkeit für nachhaltiges Leben erst jetzt?
Den Begriff der Umweltpolitik gibt es seit knapp 40 Jahren und genau so lange sind Organisationen wie Greenpeace aktiv. Speziell in den vergangenen Jahren hat Fridays for Future den Begriff der Nachhaltigkeit in jedes Wohnzimmer gebracht. Entscheidend ist jetzt aber, dass wir vom Reden ins Handeln kommen. Dass wir nicht länger nur die Probleme aufzeigen, sondern Lösungen umsetzen und skalieren. Cradle to Cradle ist eine Lösung für zusammenhängende Probleme wie Klima- und Ressourcenkrise.
Wie kann man das Konzept auch auf über lange Jahre gewachsene Wertschöpfungsketten anwenden?
Indem man Schritt für Schritt vorgeht.
Cradle to Cradle kann ein iterativer Prozess in einem Unternehmen sein. Die Hauptsache ist, dass damit begonnen wird, und das Unternehmen an den richtigen Stellschrauben ansetzt. Das Ziel darf nicht sein, etwas weniger schädliche Produkte zu produzieren oder die Schäden durch die Produktion zu verringern. Das langfristige Ziel muss sein, Produkte und Prozesse mit einem echten Mehrwert zu entwickeln. Es gibt Beispiele von großen, etablierten Unternehmen, die mit einem C2C-Produkt begonnen und erst einmal die Wertschöpfungskette für dieses eine Produkt umgestellt haben. Im zweiten Schritt wurde aus dem einen Produkt dann eine ganze Produktpalette. Und das unter anderem in der Textilindustrie, die zu den schädlichsten Wirtschaftssektoren gehört und eine globale Lieferkette hat.
Gibt es Produkte oder Prozesse, bei denen Cradle to Cradle nicht funktioniert und müssen wir deshalb bald auf bestimmte Dinge verzichten?
Grundsätzlich ist Cradle to Cradle in allen Industrien anwendbar. In manchen ist der Ansatz schon relativ bekannt, beispielsweise bei Textilien oder im Baubereich. In anderen Industrien, wie IT und Elektronik, sind noch Innovationen notwendig, um Kreisläufe auf Materialebene zu schließen. Die Bestandteile von Handy-Akkus oder konventionellen Solarpanelen sind beispielsweise so miteinander verbunden, dass die einzelnen Materialien nicht mehr voneinander getrennt werden können. Das bedeutet aber nicht, dass wir deshalb darauf verzichten müssen. Eine Lösung kann sein, die Leistung solcher Geräte über Produkt-Service-Geschäftsmodelle anzubieten, anstatt die Geräte zu verkaufen. Die Kund*innen erhalten trotzdem die gewollte Leistung, zum Beispiel saubere Wäsche, aber die Waschmaschine bleibt Eigentum des Herstellers. Der wiederum hat einen Anreiz, die Waschmaschine einfach reparierbar und demontierbar zu bauen, damit er sie nach der Nutzung entweder komplett überarbeiten oder als Materiallager für andere Maschinen nutzen kann.
Geschäftsführer Tim Janßen hat die NGO Cradle to Cradle 2012 gegründet
Wie ist die Resonanz? Kommen inzwischen mehr Unternehmen auf Sie zu?
Wir merken, dass der European Green Deal mit dem darin enthaltenen Circular Economy Package Teile der Wirtschaft antreibt. Diese Unternehmen setzen sich nicht mehr nur das Ziel, etwas nachhaltiger zu werden, sondern suchen Informationen darüber, wie sie ihre Produkte und ihr Geschäftsmodell auf eine Circular Economy vorbereiten können. Für die Kunststoffin-
industrie, wo Einwegartikel bereits verboten wurden, ist C2C interessant, weil der Ansatz konkrete Lösungen liefert. Das ist sicherlich auch für Hersteller von Spielwaren und Produkten für Kinder ein Thema. Spielzeuge, egal ob aus Kunststoff oder aus Holz, aber auch Kinderwagen oder Windeln müssen so beschaffen sein, dass sie kreislauffähig sind und keinerlei Schadstoffe enthalten. Denn mit all diesen Produkten kommen Kinder in direkten Kontakt oder nehmen sie in den Mund. Dieser Fokus auf Materialgesundheit, auf positiv definierte Inhaltsstoffe statt der üblichen „frei von“-Politik ist neben dem kreislauffähigen Design eines der Alleinstellungsmerkmale von C2C.
Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit mit Unternehmen vor?
Wir machen keine klassische Beratung, sondern verstehen uns eher als Impuls- oder Anstoßgeber. Wir klären Unternehmen über Cradle to Cradle auf, welche Denkschule dahintersteht und wie das C2C-Designkonzept genau funktioniert. Wir sprechen darüber, wie Digitalisierung und ein anderer Umgang mit Ressourcen zusammenhängen und welche Chancen sich daraus für Unternehmen ergeben können. Aber wir begleiten oder beraten nicht bei der Produktentwicklung. Dafür gibt es andere Unternehmen, die beispielsweise die Entwicklung bei Unternehmen begleiten, die ein Produkt nach C2C zertifizieren lassen wollen. Dieses Zertifikat wird vom Products Innovation Institute in den USA ausgestellt, die weltweit einzige Organisation, die dieses Siegel verleiht. Wir als NGO haben mit der Zertifizierung nichts zu tun, sondern sehen unsere Aufgabe darin, C2C in der Breite zu verankern.
Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis wir nicht nur auf ein nachhaltiges, sondern auch ein der Umwelt zuträgliches Wirtschaftssystem umgestellt haben? Oder ist es dafür schon zu spät?
Man kann sicher darüber streiten, ob es fünf vor zwölf oder fünf nach zwölf ist. Fest steht: Schon heute sind einige Ressourcen knapp und wir haben auch einige Erdklimakipppunkte bereits erreicht, also Schäden angerichtet, die wir nicht wieder gut machen können. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns nicht länger mit dem 1,5-Grad-Ziel oder dem Ziel einer Klimaneutralität zufriedengeben, sondern uns positive Ziele setzen. Das heißt, wir müssen durch unser Handeln einen positiven Impact für uns Menschen und die Umwelt erreichen. Die gesamte Weltwirtschaft durch Cradle to Cradle in eine Circular Economy zu transformieren, ist ein Prozess, der Jahrzehnte dauern wird. Umso wichtiger ist, dass wir sofort damit beginnen und alle ihren Teil dazu beitragen: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und die Zivilgesellschaft.
Oft ist es leider so, dass komplexe und teure wirtschaftliche Transformationen gesetzlich vorgeschrieben werden müssen, damit sie umgesetzt werden. Erhalten Sie ausreichend Unterstützung aus der Politik?
Wir brauchen natürlich politische Rahmenbedingungen, die die Transformation hin zu einer zirkulären Wirtschaft unterstützen. Wir brauchen aber auch jene Unternehmen, die diesen Schritt in Eigeninitiative und ohne politische Unterstützung bereits gegangen sind und die in ihrer Branche zeigen, dass C2C möglich und rentabel ist. Das sind Unternehmen, die wollen, dass es ihre Firma auch in 100 Jahren noch gibt. Und die wissen, dass sie sich ihrer eigenen Geschäftsgrundlage entziehen, wenn sie weiterhin linear mit Ressourcen umgehen. Auf der politischen Ebene geht es in Europa seit dem European Green Deal in die richtige Richtung. Nur leider, aus unserer Sicht, noch zu langsam und zu zögerlich. Ein Schritt, den wir für absolut notwendig halten, ist beispielsweise, Subventionen zu beenden, die schädliche Produkte oder Produktionsweisen künstlich verbilligen. Die Produktion von Virgin Plastic aus Rohöl ist steuerbefreit, wohingegen bei der Verarbeitung von Kunststoffrezyklat eine Steuer erhoben wird. Das ist kontraproduktiv, weil das den Markt verzerrt. Wir brauchen wahre Preise von Produkten. Und das bedeutet, dass auch die Kosten der langfristigen Schäden in die Preisgestaltung einfließen. Das ist heute nicht der Fall. Und in diesem Punkt wünschen wir uns ein schnelles politisches Handeln.
Sie arbeiten hauptsächlich in der DACH-Region. Wie sehen Ihre Pläne aus, das Konzept auch international bekannt zu machen?
Das Konzept ist in den USA oder auch in skandinavischen Ländern sowie in den Niederlanden fast bekannter als in der DACH-Region. Die US-Umweltbehörde EPA hat den C2C-Qualitätsstandard beispielsweise schon 2017 als einen zu bevorzugenden Standard für die öffentliche Beschaffung definiert. In Deutschland machen das einzelne Kommunen, wie beispielsweise die Stadt Ludwigsburg, aber auf Bundesebene ist das noch nicht der Fall. Wir arbeiten als NGO daran, dass sich das ändert, und haben vor wenigen Wochen beispielsweise ein Politik-Briefing veröffentlicht, das zehn Chancen für den Aufbruch in eine positive Zukunft skizziert, die die kommende Bundesregierung wahrnehmen muss.