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Digital – Eine Antwort finden

31. Januar 2020, 13:37

„Digital Aufrüsten“ lautet die gegenwärtige Devise deutscher Schulen. Im Zuge des bundesweiten Digitalpaktes wurden Ende vergangenen Jahres die ersten Fördergelder bewilligt. Der Bund stellt fünf Milliarden Euro bereit, um die Länder darin zu unterstützen, digitale Bildung in die Lehrpläne zu integrieren sowie in die Ausbildung der Lehrkräfte zu investieren. Es wird Zeit, meint Wassilios Fthenakis, Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie. Er will Kinder und Familien mit den Herausforderungen der Digitalisierung nicht länger allein lassen und fordert eine pädagogisch fundierte Antwort auf die digitale Welt.

Wassilios Fthenakis, das Urgestein der Bildungswissenschaften, hat sich für seine 2018 erschienene Metaanalyse „Bildung braucht digitale Kompetenz“ durch die thematisch entsprechende nationale wie auch internationale Forschung gearbeitet. Einen kleinen Einblick in seine umfassende Expertise gab er unserer Autorin Susanne Veit, die mit ihm über digitale Kompetenz und die Chancen der Spielwarenindustrie sprach.

Herr Fthenakis, sind Sie froh, dass der Digitalpakt in deutschen Schulen umgesetzt wird?
Ein längst überfälliger Schritt. Verglichen mit anderen Ländern haben wir in Deutschland relativ spät, zögerlich und ohne einen strategischen Plan auf die Herausforderung der Digitalisierung in der Bildung reagiert. Zu den bislang zählenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen kommt nun die digitale Kompetenz hinzu. Digitale Bildung ist heute so wichtig wie das Alphabet zu meiner Schulzeit. Wir müssen die Kinder auf die Zukunft vorbereiten, wir brauchen heute ein Konzept für das Jahr 2050.

Bild: Messe Stuttgart

Wie sähe die schulische Ausbildung im Idealfall aus?
Ideal wäre es, wenn die digitale Bildung im Lehrplan fächerübergreifend integriert würde, so wie es in UK und USA bereits der Fall ist. Wenn die Kinder die Möglichkeit hätten, Analoges mit Digitalem zu verknüpfen, würden wir den Bildungprozess massiv erweitern und vertiefen. Schließlich kann ich dank der digitalen Medien das Wissen heranholen, was auf analogem Wege nicht verfügbar ist. Reden wir beispielsweise über das Wissen über die Tierwelt: Heute erfahren Kinder, welche Tiere in Afrika leben, wie sie aussehen, welche Laute sie von sich geben. All das ist Know-how, das wir uns über die digitale Welt heranholen. Im Idealfall verbessert also der Einsatz von Technologie die Qualität der Bildung, weil sie analoges Wissen vertiefen kann. Um einen Bildungserfolg zu garantieren, sind vier verschiedene Faktoren notwendig. Erstens, man braucht eine gute Infrastruktur, also das entsprechende technologische Angebot, zweitens, gut ausgebildete Pädagogen, drittens, ein geeignetes pädagogisches Konzept und viertens, gut informierte Eltern. Nur wenn diese vier Faktoren zusammenwirken, können wir entsprechende Effekte erwarten.

Es gibt auch Wissenschaftler, wie Manfred Spitzer beispielsweise, die vom kindlichen Konsum digitaler Medien kategorisch abraten. Haben Sie seine Positionen für Ihre Metastudie herangezogen?
Natürlich. Wir hatten für unsere Studie den Anspruch, absolut fair alle großen Argumentationslinien widerzugeben. Wir wollen informieren und nicht polemisieren. Die Positionen von Herrn Spitzer sind meiner Ansicht nach nicht alle fachlich begründet. Die Forderung, kleinen Kindern den Zugang zu digitalen Medien zu verbieten, finde ich beispielsweise überzogen. Mit Verboten von außen lässt sich die Bildung der Zukunft nicht gestalten. Doch ich habe ihm auch in manchen Dingen Recht gegeben. Manche seiner Vermutungen sind durchaus ernstzunehmen. Grundsätzlich rate ich dazu, einseitige Positionierungen aufzugeben. Wir werden dem Thema nicht gerecht, wenn wir immer nur eine wissenschaftliche Disziplin heranziehen, eine Perspektive, eine Ideologie.

Die Debatte über Für und Wider der Nutzung digitaler Medien ist ziemlich aufgeheizt.
Mein Ziel ist es, in die kontrovers geführte Debatte einen sachlichen Ton zu bringen und einen Mittelweg zu finden. Ob wir es möchten oder nicht: Die Kinder wachsen heute in einer digitalen Welt auf. Weder die Medizin noch die Psychologie noch die Pädagogik wird die Kinder davon abhalten, diese Beziehung zur digitalen Welt zu entwickeln. Es wäre daher wichtig, eine pädagogisch begründete Antwort auf die digitale Herausforderung zu finden, allem voran die digitale Kompetenz der Kinder zu stärken.

Verstehen Sie unter digitaler Kompetenz auch das Wissen um die Risiken und Gefahren des Konsums?
Es geht mir nicht um einen naiven, sondern um einen kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit den digitalen Medien, darum, die Chancen der Technologie zu nutzen, aber eben in kompetenter Art und Weise. Dazu gehört auch die Reflexion darüber, welchen Interessen das jeweilige digitale Angebot dient. Aus meiner Perspektive ist es zentral wichtig, dass wir früh beginnen, die digitale Kompetenz bei Kindern zu stärken, damit sie lernen, wie sie mit den Chancen aber eben auch mit den Gefahren umgehen.

Reden wir von Kreativität, einer Kernkompetenz, wenn es darum geht, die überaus komplexen Probleme von morgen zu lösen. Meiner Meinung nach gefährdet der Konsum digitaler Medien die Kreativität. Können unsere digital geschulten Kinder die Probleme der Zukunft lösen?
Was sie zu Recht anmerken, ist nicht das Problem der Technologie als solche, sondern des Angebots, das wir im Moment haben. Die Qualität des Angebots ist weit von dem entfernt, was wir bräuchten, das stimmt. Aber fügen wir eine neue Perspektive hinzu: Ich definiere Kreativität als die Sprengung von Grenzen, von Normen und von Konzepten. Die reale Welt bietet begrenzte Möglichkeiten, um sie neu zu gestalten. In der digitalen Welt hingegen kann ich frei experimentieren, alles verändern und das, ohne Risiken einzugehen. Es gibt durchaus Technologien, die geeignet sind, die Kreativität zu stärken.

Ich sehe Ihren Punkt. In der Fotografie gibt es beispielsweise zahlreiche Programme, mit denen man aus einem guten Bild ein herausragendes Bild machen kann. Es ist ein Tool.
Technologie verändert an sich nichts. Sie ist immer nur ein Tool. Es kommt darauf an, wie ich sie gebrauche oder eben missbrauche. Die Software, die unseren Kindern heute zur Verfügung steht, ist zweifelsfrei in weiten Teilen nicht empfehlenswert. Es gäbe auf diesem Gebiet völlig andere Möglichkeiten, die noch nicht entdeckt sind.

Die Frage ist, ob wir so viel Hoffnung in zukünftige Software setzen können. Schließlich haben die Entwickler keinen Bildungsauftrag, sondern ein rein monetäres Interesse.
Wir brauchen einen produktiv-kritischen Umgang mit den neuen Technologien und ja, dafür brauchen wir in der Tat gute Materialien. Sowohl die Spielwarenindustrie als auch die Industrie, die sich mit didaktischen Materialien in Deutschland befasst, haben auf diese Herausforderung relativ spät reagiert. Hier liegen ungeahnte und bislang nicht genutzte Chancen vor uns.

Sie sprechen von Produkten wie tiptoi, in denen Spielen und Lernen verknüpft sind?
Absolut. Das ist ein völlig neuer Markt und die deutsche Industrie sollte die Chancen besser nutzen, sonst werden uns amerikanische und chinesische Produkte überfluten. Und diese entsprechen dann möglicherweise nicht unseren didaktischen Anforderungen.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Wie sieht die Welt unserer Kinder aus?
Die digitale Technologie entwickelt sich rasant. In der Schule der Zukunft werden vernetzte digitale Plattformen zur Verfügung stehen und in weiten Teilen die Bücher ersetzen. Technologien werden selbst in die Organisation der Bildungsprozesse eingreifen und das bereits im Kindergarten. Das beinhaltet beispielsweise Gesichtserkennungstechnologien oder Fiebermessgeräte bei Bildungseinrichtungen wie es in China heute schon der Fall ist. Das erste Mal in der Geschichte wird Wissen generiert werden, an dem der Mensch nicht direkt beteiligt ist. Komplexe Algorithmen lösen Probleme beispielsweise in der Medizin oder in der Logistik selbständig. Entsprechend dem Raum, den sie einnimmt, wird die Technologie der größte Ausgrenzungsmechanismus in der Gesellschaft sein, wenn sie das nicht schon sowieso ist. Wenn man die digitale Welt nicht beherrscht, kann man keine Buchung vornehmen, sich nicht an demokratischen Diskussionen beteiligen, ist vom Informationsfluss abgeschnitten.

Wassilios Fthenakis, 82, Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie, fordert seit Jahren einen strategischen Plan für die Implementierung digitaler Bildung im Schulwesen (Bild: Frank Roesner)

Welche Kompetenzen werden Kinder in der Zukunft brauchen, die über die digitale Bildung hinausgehen?
Kinder werden andere Kompetenzen brauchen als wir früher. Es ist ja heute schon so, dass ein Großteil der kognitiven Fähigkeiten auf die technische Intelligenz übergeht. Wichtig werden meiner Meinung nach Fähigkeiten, die wir bisher als Soft Skills betitelt haben. Ich spreche von Empathie und emotionaler Intelligenz, von kooperativen Fähigkeiten, kultureller Aufgeschlossenheit, kommunikativer und interkultureller Kompetenz, der Kompetenz, Probleme gemeinsam mit anderen zu lösen und von Kreativität. Das sind Fähigkeiten, die Kinder in der Zukunft brauchen. Moderne Bildungsentwürfe müssen darauf reagieren. In der Zeit der Digitalisierung sollte auch die Face-to-Face-Interaktion viel mehr gestärkt werden, sie ist unverzichtbar.

Wie soll das funktionieren, wenn jeder auf sein Tablet starrt?
Wenn sich Menschen nicht mehr sehen, sich nicht mehr grüßen, weil es für sie nur noch die Beziehung zu ihrem Gerät gibt, dann ist das sicherlich nicht die Zukunft. Wir brauchen viel mehr zwischenmenschliche Kommunikation, das ist die Grundlage des Menschlichen überhaupt. Die digitale Kompetenz müssen wir stärken, das ist eine Chance, aber kein Ersatz für all das andere.

Herr Fthenakis, danke für das spannende Gespräch.