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Das Gedächtnis der Spielebranche

11. Juni 2024, 14:42

Anfang des 20. Jahrhunderts befasste sich Philosoph Walter Benjamin sowohl mit dem „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ als auch mit den frühesten Shopping-„Passagen“ (in Paris). Damit traf er doppelt einen Kern dessen, was heute im Deutschen Spielearchiv in Nürnberg (DSAN) – neben vielen weiteren Themen – thematisiert wird: Zum einen, wie kamen ab den 1880er Jahren überhaupt Brett- und Kartenspiele drucktechnisch in die Welt? Und zum anderen, wer kaufte in der Zeit der Industrialisierung wo Spiele, und welchen gesellschaftlichen Stellenwert hatten sie? Fragen, die Stefanie Kuschill, seit 2010 Mitarbeiterin im DSAN, jeden Tag zu beantworten sucht. Denn die Wissenschaft historischer Gesellschaftsspiele steht noch immer am Anfang.

Ab den 1990er-Jahren tauchte erstmals der „Grüne Punkt“ auf den ersten Spieleschachteln auf und verursachte einen Branchenaufruhr. Denn diese Verbrauchs-Markierung stigmatisierte das Kulturgut Spiele – im Gegensatz zu Büchern – als duales „Wegwerf“-Produkt. Und dies geschah gerade zu einer Zeit, als bezahlbare Brett- und Tischspiele (endlich) in Massenproduktion in die Kinder- und Wohnzimmerregale drängten. Viele, vor allem die ältere Generation, begannen erst jetzt zu begreifen, welche Kulturerrungenschaft da ihren Zeitgeist zu spiegeln vermochte: das Spiel. Denn die damalige Kriegsgeneration hatte für dieses überflüssige Beschäftigen keine Zeit – geschweige denn, dass sie Brettspielen als herrlich-nutzlose Gar-nicht-Zeitverschwendung liebte.
Im Haus des Spiels weiß man um diesen „blinden Fleck“ gesellschaftlicher (Selbst-)Wahrnehmung, das Team kümmert sich seit Anfang darum. Alles begann, als der Ursprungsbestand des 1985 von Dr. Bernward Thole gegründeten Marburger Spielearchives von den Städtischen Museen Nürnberg aufgekauft und ab 2012 mit sieben LKW-Ladungen ins ehrwürdige Pellerhaus am Egidienplatz gebracht wurde. Seitdem ist der Archivbestand von 5.000 auf rund 40.000 Gesellschaftsspiele aus fünf Jahrhunderten angewachsen – jedes Jahr kommen etwa 400 hinzu, oft werden sie von privat angeboten. Alle Spiele werden auf vier Etagen dokumentiert, fotografiert, verschlagwortet und in kilometerlangen Regalen lichtgeschützt aufbewahrt. Ein unerschöpflicher Fundus. Und eben nicht nur ein elementares „Gedächtnis der Verlage“ und des „Spiel des Jahres“, sondern eben auch ein Gedächtnis alter Zeiten. Ein Paradies für Spielebewusste, wenngleich die historisch wertvollen Artefakte selbst, bis auf ein paar Doubletten, nur in Ausnahmefällen verliehen werden.

In endlos langen Regalen werden im Deutschen Spielearchiv in Nürnberg rund 40.000 Spiele aufbewahrt. Eine Menge Arbeit für Mitarbeiterin Stefanie Kuschill und das ganze Team.
1988 erstritten sich die Spieleerfinder mit der Donnerstags-Proklamation auf einem Bierdeckel das Recht auf Autorennennung.

Freizeitvergnügen für die Upper Class
Als Benjamin also über die Auswirkungen billiger Drucktechniken philosophierte, meinte er nicht explizit Brettspiele: Illustratorisch-grafisch galten Spielfelder eher nicht als Kunst-, allenfalls als Gebrauchswerke. Sie existierten schon weit vor den 1920er-Jahren nur in der Kaufkraft jener urbanen Upper Class, die überhaupt Luxuszeit fürs Spielen hatte. Die Koinzidenz, dass damals parallel die ersten Warenhäuser öffneten, vermischt sich folglich mit den Fragen, wer überhaupt in welchen Läden Spiele kaufen konnte, was sie kosteten und ob man ihnen vielleicht eine viel höhere (handwerkliche) Bedeutung zumaß als heute, in der Zeit billiger Massenreproduktion? Dies wiederum führt zu weiteren Untersuchungen, welchen Epochengeist sie wie spiegelten, denn ein Spiel kann schließlich nicht nichts darstellen. Es ist unzweifelhaft, dass die meisten der historischen Objekte – selbst „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Monopoly“ – heute nicht mehr so erdacht, geschweige denn veröffentlicht würden. Nicht nur Stefanie Kuschill würde bestätigen, dass viele Spiele den Rollenbildern entsprachen, das heißt, Mädchen basteln oder hängen Wäsche auf, Jungen bauen, fahren erste Autos, dürfen „böse“ sein. Gender- und Farbdebatten lösen sie erst heute aus. Auch lassen die rassistischen, kolonialen Vorstellungen von damals schaudern, ebenso wie die militärischen („Bomben auf England“).
Doch auch deren Verkauf wuchs mit der Freizeitgesellschaft. Am Beispiel des ursprünglichen Fürther Spear-Verlages, um 1930 einer der größten Spielehersteller Deutschlands („Scrabble“), lassen sich anhand von dessen allein 2.000 Objekten (plus Archivalien) genau solche zeitgeistigen und wirtschaftlichen Implikationen erforschen.

Besucher immer erwünscht
2023 verzeichneten Stefanie Kuschill und ihr Team über 30.000 Besucher im Haus des Spiels, auch die Spieleabende waren gut besucht. Die Arbeit geht also nie aus, so Stefanie Kuschill. Daher sind freie Mitarbeitende, wissenschaftliche Praktikanten und Forschungsbesucher immer gerne gesehen. Die systematische Erkundung, unter anderem auch die der Linguistik tausender Spieleanleitungen, stecke allerdings in den Kinderschuhen. Doch immerhin, erste tolle Ergebnisse – etwa Highlights der jüngst hinzugekommenen 5.000 privaten Sammlerstücke Dieter Mensenkamps – werden vom 23. Mai bis 6. Oktober im Sonderausstellungsraum des Nürnberger Spielzeugmuseums unter dem Motto „Schätze in Schachteln“ präsentiert, kuratiert von Jana Mathewes.
Genau solche Sonderausstellungen beweisen, wie sehr sich Spiele verändert haben: Die Thematik reicht von simplen Lauf-, Lotto- und Legespielen hin zu höchst komplexen Kennerszenarien heute, von der unsäglichen Zeigefinger- und Militärpädagogik bis eben hin zu entzückenden grafischen Ideen. Feststellen lässt sich auch, dass heute sogenannte Siegpunkte das früher selbst in Kinderspielen unverzichtbare Spielgeld ersetzen, dass Plastik-material zunehmend vermieden wird und dass die Illustrationen jahrhundertelang wichtiger waren als die Erfinder selbst. Für deren Zunft haben sich 13 Spieleautoren mit der „Donnerstags-Proklamation“ auf einem Bierdeckel 1988 das Recht auf Autoren-Namensnennung ausbedungen, unter anderem Wolfgang Kramer, Reinhold Wittig, Klaus Teuber und Alexander Randolph.
Wer also all diese Wunder und Entwicklungen sehen mag, sollte spätestens für die Sonderausstellung „Schätze in Schachteln. Die Spielesammlung Mensenkamp“ nach Franken reisen. Es lohnt sich. Stefanie Kuschill und Jana Mathewes erzählen dann auch gerne, wie gut die Zusammenarbeit des DSAN mit den Hochschulen, dem im gleichen Haus beheimateten, bundesweiten Spieleclub „Ali Baba“ sowie dem Nürnberger Spielehandel ist. 

Dr. Thomas Lappe

museen.nuernberg.de