Bücher: Das Möbius-Prinzip
Wenn Leser an der Entstehung von Geschichten aktiv beteiligt sind, werden sie zu „Prosumenten“ und tragen dazu bei, die Handlungen ihrer Lieblingscharaktere zu steuern – nicht nur in der Literatur, sondern auch in Filmen oder Videospielen. Welche Möglichkeiten dieses Konzept auch für andere Branchen bietet, zeigen Stella Diakou und Clara Pont vom innovativen
Möbius Projekt.
Möbius ist ein 2021 ins Leben gerufenes Innovationsprojekt, das von der Europäischen Kommission gefördert wird. Das Projekt-Konsortium besteht aus elf Partnern, die in Italien, Spanien, Deutschland und Belgien ansässig sind. Das visionäre Ziel: die Buch- und Verlagsbranche in Europa zu revolutionieren. Möbius will neue immersive Erfahrungen durch Bücher schaffen und damit traditionellen Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodellen innerhalb der Buchbranche neues Leben einhauchen. Zudem soll das Potenzial von „Prosumenten“ oder „Prosumern“ freigesetzt und eine neue Ära eingeläutet werden, in der Buch- und Medieninhalte auf neue und bereichernde Art und Weise erfahrbar gemacht werden. Die Initiative setzt auf das sogenannte Prosumer-Konzept (siehe Kasten rechts) und zeichnet eine Zukunft vor, in der Prosumer eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Verlagslandschaft allgemein, aber auch von Buchinhalten im speziellen spielen. Dafür stellt Möbius eine Reihe von (digitalen) Werkzeugen zur Verfügung, um ein faires und nachhaltiges Wertesystem zu schaffen, von dem alle Beteiligten profitieren (Stichwort „Urheberrecht“).
Dieser innovative Ansatz geht über die Grenzen des traditionellen Verlagswesens hinaus, indem er beispielsweise die Trennung zwischen Autor und Leser verwischt und Fans einer Geschichte, wie zum Beispiel Harry Potter, die Möglichkeit bietet an der Erweiterung dieser Welt mitzugestalten. So entstehen völlig neue, erweiterte Möglichkeiten, Buchinhalte auch medial erlebbar zu machen.
Das Wort „Prosumer“ oder „Prosument“ ist ein Kofferwort, das sich aus den Begriffen „Produzent“ und „Consumer/Konsument“ zusammensetzt. Es beschreibt eine Person, die Produkte und Dienstleistungen mit-produzieren oder verbessern kann, die sie dann konsumieren wird. Prosumenten findet man zu Millionen in den von großen Verlagshäusern verwalteten Online-Communities und in unabhängigen Onlineforen, zum Beispiel für Fan-Fiction, eine wertvolle Ressource für die Entstehung von Büchern und Geschichten, die noch fast völlig unerschlossen ist.
Im Rahmen des Möbius-Projekts sind experimentelle Multmedia-Produktionen entwickelt worden, die auf dem Roman „Der Einfluss von Blau“ von Giulio Ravizza sowie auf der Kurzgeschichte „Fantasy“ von Filippo Rubulotta basieren. Diese experimentellen Produktionen bestehen aus vier Elementen: 1. den immersiven individuellen Bucherlebnissen, die mit dem Möbius Book Creator, einem digitalen Tool, generiert werden und die über den Möbius Player zugänglich sind; 2. der Mobile Immersive Book Box, eine Art Raum, auf dessen Wände Bilder/Filme projiziert und die mit Sound abgespielt werden; 3. dem VR-Erlebnis und 4. der Möbius Immersive Book Art Installation, eine immersive Show, die von Medienkünstler Franz Fischnaller und Sound Designer Rupert Huber entwickelt und vom Kunstkraftwerk Leipzig produziert wurde.
Möbius entwickelt seine immersiven Erlebnisse durch das Mitwirken von Testern. Sie stellen sicher, dass die Projektergebnisse relevante und qualifizierte Beiträge enthalten, die direkt auf die Bedürfnisse und Anforderungen der Nutzer eingehen. Änderungen und Verbesserungen, die sich aus der aktiven Beteiligung der Nutzer während der Entwicklungsphasen ergaben, waren während des gesamten Projekts erwünscht und haben dazu beigetragen, die Gültigkeit der Ergebnisse zu gewährleisten.
In der praktischen Anwendung, also außerhalb des Projektrahmens, sollen mit Hilfe von Möbius, Wissen und Werte beispielsweise aus Online-Fan-Fiction-Communities herausgefiltert werden, um damit bereits existierende Bücher- oder Filmwelten zu erweitern. Kurz zum Verständnis: Fan-Fiction sind Geschichten, die von Fans geschrieben werden und deren Charaktere und Inhalte auf bereits existierenden Werken aufbauen, sei es in Büchern, Filmen, Fernsehserien, Comics oder anderen Medien. Das Wissen, was Fans sich für ihre Lieblingscharaktere wünschen oder wie sie in die Welt von Twilight, Harry Potter, Herr der Ringe und Co. am liebsten eintauchen möchten, können Urheber, Autoren oder Lizenzgeber nutzen, um die Inhalte dieser Geschichten auf intensive, neue und immersive Art und Weise erlebbar zu machen. Durch das Mitgestalten dieser Erlebnisse können traditionelle Wertschöpfungsketten, wie zum Beispiel Urheber/Autor ➞ Verlag ➞ Buch ➞ Leser, aufgebrochen und langfristig das gesamte Verlagswesen revolutioniert werden.
Um das Mitgestalten durch die Prosumer zu ermöglichen, wurden im Rahmen des Möbius-Projekts Webseiten und Online-Plattformen mit benutzerfreundlichen Useroberflächen geschaffen. Diese Tools erleichtern die nahtlose Erforschung und Interaktion mit der Fülle der zur Verfügung stehenden Daten. Dies macht es den Interessenvertretern, Kreativen und Fans möglich, sich in dem komplizierten Geflecht aus prosumergesteuerten Erkenntnissen und Möglichkeiten zurechtzufinden.
Zu den innovativen Anwendungen von Möbius gehören das Möbius Book (mit einem Player und einer Creator-App) und das Prosumer Intelligence Toolkit (PIT). Der Player ist eine interaktive mobile Anwendung, mit der Leser immersive Bücher konsumieren können. Gleichzeitig ermöglicht der Creator Autoren und anderen Laien-Schriftstellern ihre eigenen Geschichten über eine Webanwendung in immersive Erlebnisse zu verwandeln. Auch Verlage haben ein Wörtchen mitzureden: Für sie ist das Prosumers Intelligence Toolkit (PIT) interessant. Damit können sie ein besseres Verständnis der Fan-Fiction-Communities in Form eines Daten-Dashboards erhalten. Das Wissen über Fan-Fiction, das von Prosumer-Online-Fan-Communities gesammelt wird, soll den Verlagen neue Erkenntnisse über ihre IPs, beliebte Genres et cetera liefern.
Das Möbius-Projekt bringt also komplementäre, multidisziplinäre und sektorübergreifende Partner zusammen, die über Fachwissen in verschiedenen Bereichen verfügen: Verlagswesen, Nutzerforschung und computergestützte Sozialwissenschaften, Management von Living Labs, Innovation von Geschäftsmodellen, Recht, immersive und interaktive Medientechnologien sowie Kunst. Mit Abschluss des Projekts im März 2024 sollen Ergebnisse zu folgenden Bereichen vorliegen: 1. Untersuchung der Bedürfnisse und Herausforderungen der Buch- und Verlagsbranche; 2. Entwicklung technischer Lösungen für die ermittelten Bedürfnisse; 3. Entwicklung neuer Geschäftsmodelle; 4. Ausweitung der Trend- und Talentscouting-Möglichkeiten auf Netzwerken und in (Online-)Communities von Autoren und Influencern und 5. Stärkung des europäischen Medien-Ökosystems.
Das Projekt läuft im Februar 2024 aus. Im Laufe der Projektlaufzeit wurden umfangreiche Untersuchungen durchgeführt, um die Bedürfnisse von Autoren, Schriftstellern und Lesern zu verstehen und um herauszufinden, wie diese Bedürfnisse die Entwicklung der Buch- und Verlagsbranche angesichts der durch den technologischen und digitalen Wandel verursachten Veränderungen besser beeinflussen können. Im Rahmen des Projekts wurden neue Anwendungen entwickelt, die die Erstellung und den Konsum von Büchern verbessern und das Potenzial haben, von anderen Branchen des Kultur- und Mediensektors aufgegriffen zu werden. Angesichts der Bedeutung und Zentralität des Verlagswesens auch für andere Kreativ- und Kultursektoren (zum Beispiel audiovisuelle Medien, Musik, Architektur) wird erwartet, dass die Forschungsergebnisse des Möbius-Projekts in künftige europäische politische Strategien für die Kultur- und Kreativindustrie einfließen werden, um den Verlagssektor zu unterstützen und zu fördern.
Grenzen verwischen
Dr. Stella Diakou, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DEN-Institut und arbeitet für das Möbius-Projekt. Ihre Forschungsinteressen reichen von Landschaftsarchäologie über die Archäologie umkämpfter Regionen, die Verbindungen, die Menschen zu ihrer Vergangenheit herstellen, die Digitalisierung des kulturellen Erbes, die Demokratisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse bis hin zur Rolle und den Auswirkungen der Kultur auf die Gesellschaft. Nach einer Karriere in Wissenschaft und Forschung arbeitet sie nun an der Folgenabschätzung von Projekten im Kultur- und Kreativsektor.
Dr. Diakou, das Möbius-Projekt soll die Buch- und Verlagsbranche revolutionieren; glauben Sie, dass das Konzept auch auf andere Branchen übertragbar ist?
Die Idee des Möbius-Projekts ist durchaus auf andere Branchen übertragbar. Das war im Übrigen auch eines der Projektziele: Forschungsergebnisse zu erhalten, die als Grundlage für künftige Strategien der europäischen Kulturpolitik dienen können, insbesondere um den Verlagssektor zu unterstützen und zu finanzieren. Die Buch- und Verlagsbranche spielt eine wichtige Rolle in anderen kreativen und kulturellen Bereichen wie zum Beispiel den audiovisuellen Medien, der Musik und der Architektur. Beim Ausloten des Potenzials für die interdisziplinäre Nutzung des Möbius-Projekts führten wir ausführliche Gespräche mit Projektpartnern, die überlegten, wie die Möbius-Produkte im Bildungs- und Kultursektor genutzt werden könnten – beispielsweise in Museen und Klassenzimmern, in der Spieleindustrie und im Filmsektor. Ein weiterer Aspekt, der während der Messen und Veranstaltungen, bei denen wir Möbius vorstellten, zur Sprache kam, ist die Frage, wie die Produkte zur Verbesserung des Leseerlebnisses von Menschen mit Behinderungen eingesetzt werden könnten. Das dürfte vor allem für den Bildungs- und Gesundheitssektor interessant sein. Die Rolle der Prosumenten als eine Gruppe, die sich mit der Herstellung und dem Konsum von Produkten und Ideen befasst und damit einen Wandel in verschiedenen Branchen vorantreiben kann, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Ein Beispiel wie dieses Konzept jenseits der Verlagsbranche heute schon angewendet wird, sind die vielen Influencer auf Social Media, die aufgrund ihrer Erfahrungen bei der Verwendung und Bewerbung von Produkten oft ihre eigenen Produkte auf der Grundlage des von ihnen gesammelten Wissens entwickeln.
Wie war die Reaktion der Menschen, die mit dem Möbius-Projekt in Kontakt kamen?
Das Möbius-Projekt hat das Interesse eines breit gefächerten Publikums geweckt, von Verlegern bis hin zu Autoren, von Profis bis zu Amateuren, von Lesern unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Fachkenntnissen und Interessen. Zusätzlich zu den Workshops und Interviews, die im ersten Teil des Projekts stattfanden, wurden im letzten Teil des Projekts der Möbius Creator, der Player und die immersiven Erlebnisse auf (Buch-)Messen und anderen Veranstaltungen vorgestellt. Das Publikum war begeistert, die beiden Anwendungen des Möbius Books zu testen und zu erforschen, wie es ist, ein Buch zu erstellen und zu lesen und dabei 3D-Elemente wie Bilder und Videos einzubeziehen. Die Möglichkeit, ein immersives Leseerlebnis auf einem tragbaren Tablet zu schaffen und ein Buch auf so innovative Weise zu erleben, hat insbesondere die Neugierde von jungen Leserinnen und Lesern geweckt. Ebenfalls positiv hat das Publikum auf den Mobile Immersive Book Box sowie die VR-Headsets reagiert, die in einer immersiven Umgebung die visuelle Rekonstruktion von Teilen der im Rahmen des Möbius-Projekts entwickelten Bücher präsentierten.
Glauben Sie, dass die Verbraucher sich tatsächlich engagieren und zur Entwicklung einer Geschichte oder eines Produkts beitragen wollen? Oder wird unser Leben so komplex, dass die Menschen in Zukunft den passiven Konsum vorziehen werden?
Ja, wir glauben, dass die Verbraucher sich an der Entwicklung einer Geschichte oder eines Produkts beteiligen wollen, und wir erwarten, dass es mehr davon geben wird. Wenn wir uns den Buchsektor ansehen, stellen wir fest, dass dies bereits in den Fan-Fiction-Communities geschieht. So gibt es beispielsweise zahlreiche Spin-offs der Harry-Potter-Bücher oder der Twilight-Saga. Viele von ihnen haben sich sogar zu Bestsellern entwickelt. Sie sind das Ergebnis von Menschen, die sich mit bereits erfolgreichen Geschichten beschäftigen und neue darauf basierende Inhalte produzieren. Das Gleiche ist auch bei Produkten der Fall. Marktforschung vor der Entwicklung eines Produkts zu betreiben und die Ergebnisse, das heißt die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucher ins Produkt einfließen zu lassen, ist nichts Neues. Durch den technologischen Fortschritt und die sozialen Medien erreichen wir inzwischen aber ein größeres und diverseres Publikum, und das gibt Menschen die Möglichkeit, eine noch wichtigere und aktivere Rolle in diesen Prozessen zu spielen.
Wenn wir über Bücher und Geschichten sprechen, ist es interessant zu beobachten, dass Leserinnen und Leser den Autor, den Schöpfer der Geschichte, als distanziert wahrnehmen. Es ist relativ neu, dass die Grenzen zwischen Autoren und Lesern/Produzenten und Konsumenten immer mehr verwischen.