Bücher – Am Leben, am Herzschlag
Wie so viele Mütter befürchtete auch Susanne Veit, dass ihre Kinder vor lauter Social Media und Online-Games irgendwann nicht mehr wissen, wie Schneeflocken schmecken und Lavendel duftet. Allen Unkenrufen zum Trotz wagte sie den Schritt aufs Land, kaufte Hasen und Hühner und legte einen Gemüsegarten an. Es war der Beginn einer Reise in ein naturnahes Leben. Ihre Erfahrungen schildert sie im Buch „Alles Mist? Eine Familie zieht aufs Land“ und im nachfolgenden Interview.
In ihrem Erfahrungsbericht macht Autorin Susanne Veit Lust aufs Landleben
Sibylle Dorndorf sprach mit der Autorin über die Vor- und Nachteile des Landlebens, Digital Detox und die Frage, wieviel Wildnis wir heute noch ertragen.
Frau Veit, sind Kinder auf dem Land die glücklicheren Kinder?
Nein, so pauschal lässt sich das nicht sagen. Eine glückliche Kindheit wird von anderen Parametern als dem Wohnort bestimmt. Kinder brauchen in erster Linie ein liebvolles Umfeld, mit allem anderen arrangieren sie sich. Man kann auch in der Stadt gut leben, ich persönlich bevorzuge aber eben das Landleben.
Sie werden gute Gründe dafür haben.
Landkinder haben die Chance, die Natur intensiv zu erleben, den Wald, wilde Tiere, den Zauber von Herbstnebel und gefrorenen Bächen. Sie erfahren die Jahreszeiten, den ewigen Kreislauf der Natur, sie fühlen sich eingebettet, verstehen sich als das was sie sind, als Teil der Schöpfung. In der Stadt ist man schnell von der Natur abgekoppelt und damit auch ein Stück weit von sich selbst. Zudem können Kinder auf dem Land ihre eigenen Tiere halten und lernen dadurch jede Menge, nicht nur über die Tiere, sondern auch über sich selbst. Verantwortung, ihre eigenen Grenzen, ihre Ängste, ihre Stärken. Und natürlich haben Kinder hier noch Wald und Wiesen, Platz und Matsch. Sie können durch den Wald rennen und auf Bäume klettern.
Das klingt nach einer heilen Welt.
Es ging mir in dem Buch nicht darum, eine Insel der Seligen zu projizieren, die zentralen Fragen im Buch sind eher nüchtern: Was lernen und was erleben Kinder im Umgang mit Tieren, mit dem Wald, mit der Natur? Welche Kompetenzen erlangen sie, wenn sie den Kompost umsetzen oder wenn das Lieblingshuhn vom Habicht gerissen wird.
Bleiben wir bei dem gerissenen Huhn. Was lernen sie daraus?
Stirbt das eigene Tier, ist das zunächst kein schönes Erlebnis aber ein ungemein lehrreiches. Man erfährt die Endlichkeit des Lebens und findet seinen ganz persönlichen Weg, damit umzugehen. Als unser Lieblingshuhn einem Habicht zum Opfer fiel, war das vor allem für die Kinder sehr traurig. Aber wenn man dieser Geschichte etwas Positives abgewinnen möchte, dann eben, dass die Kinder Gefühle wie Wut und Verzweiflung durchlebt und sich dadurch selbst gespürt haben. Dieses nah dran sein am Leben, am Herzschlag, das ist, so glaube ich, in der Entwicklung von Kindern ein ganz zentrales Moment. Gleichzeitig führen Erfahrungen wie diese dazu, dass sich stereotype Gut-Böse-Schablonen auflösen. Das kann man alles im Buch nachlesen.
Wo liegen die Herausforderungen im Alltag?
Tiere zu halten bedeutet in erster Linie harte Arbeit. Man muss sie versorgen, jeden Tag, auch wenn es regnet und man die Grippe hat. Die Fürsorgepflicht, die man gegenüber seinen Tieren hat, muss man den Kindern erst vermitteln, sie müssen das erlernen. Und natürlich gibt es Phasen, in denen sie ihre Pflichten aus Bequemlichkeit oder tatsächlichem Zeitmangel vernachlässigen, und so müssen wir immer wieder neu verhandeln, wer welche Aufgaben übernehmen will und kann.
Und es ist definitiv eine Herausforderung, den Raum und die Intensität des naturnahen Lebens mit allen Beteiligten zu diskutieren und zu definieren. Sollen, können, dürfen wir beispielsweise unsere Hühner schlachten oder kann man das Kindern heute nicht mehr zumuten? Sollten wir uns als Familie überhaupt Zeit für diese Dinge nehmen oder die Kinder nicht lieber in Chinesisch und Informatik unterrichten lassen?
Stichwort Informatik. Kann man Kinder auf dem Land leichter analog begeistern als in der Stadt?
Eines vorweg: Ich habe kein Problem damit, wenn Kinder sich mit den digitalen Medien auskennen und einige von diesen in einem vernünftigen Ausmaß verwenden. Aber ich habe den Eindruck, dass zu viele Kinder die digitalen Medien heute weniger nutzen als vielmehr von diesen benutzt werden, beziehungsweise den Konzernen, die dahinterstehen. Sprechen wir über Computerspiele. Sie sind darauf angelegt, süchtig zu machen. Die Kinder und ihre Familien sind die Opfer.
Man hört oft, dass Kinder schon allein aus Gruppenzwängen heraus zocken.
Ich persönlich habe noch nie erlebt, dass ein Kind tatsächlich ausgeschlossen wurde, weil es sich an irgendwelchen Games oder Chats nicht beteiligt hat. Ich habe eher gegenteilige Beobachtungen gemacht. Kinder, die sich sehr rege in den Klassenchats tummeln, zerstreiten sich untereinander viel häufiger und auch viel unfairer als Kinder, die sich aus den Chats raushalten. Die doch eher spontan formulierten Wortfetzen eines typischen WhatsApp-Chats bergen meiner Meinung nach, ein sehr hohes Potenzial an Missverständnissen. In der Grundschule erlebte und erlebe ich oft Kinder wie auch Eltern, die sich über den Besitz ihrer digitalen Unterhaltungselektronik definieren und profilieren. Wie sich deren vermeintlicher Segen im Laufe der Jahre als Fluch entpuppen kann, habe ich in meinem Buch thematisiert.
Ein Tipp von Ihnen: Wie haben Sie es geschafft, dass Ihre Kinder nicht zocken?
Wenn ich als Mutter nicht will, dass sich mein Kind mit einer Sache beschäftigt, dann lasse ich diese Sache eben erst gar nicht in mein Haus. Gleichzeitig kann man mit seinen Kindern ja reden und sie über das Thema entsprechend aufklären. Warum sollten sie das nicht verstehen? Und ja, man sollte dem Kind Alternativen bieten, ihm zeigen, dass das wirkliche Leben viel spannender ist als Games, dass ein Gespräch mit anderen Menschen wertvoller ist als WhatsApp-Chats.
Und das funktioniert auf der Kuhweide besser als im Stadtmuseum?
Ich glaube das funktioniert prinzipiell überall und hängt in erster Linie davon ab, wie viel Zeit sich die Eltern oder andere Bezugspersonen für ihr Kind nehmen können und/oder wollen. Aber natürlich eignet sich die Natur hervorragend dazu, den Kindern zu zeigen, wie spannend das Leben ist.
Nicht nur Kinder finden den Wald spannend. Der Wald erlebt in der Gesellschaft gerade einen regelrechten Hype.
Die Naturromantik gehört seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu unserer abendländischen Kultur. Der Wald avancierte damals zum Sehnsuchtsort einer sich entwickelnden Stadtbevölkerung. Heute, in Zeiten von Megacitys, Smog und ökologischen Krisen ist die Natur mehr denn je Sehnsuchtsort und Symbol einer heilen Welt. Doch die Liebe spielt sich zunehmend auf medialer Ebene ab, die meisten von uns haben von den einfachsten Vorgängen in der Natur keine Ahnung mehr. Ich weiß nicht, wie oft ich gefragt wurde, ob meine Hühner für das Eierlegen einen Hahn brauchen. Romantik und Realität klaffen sehr weit auseinander.
Gibt es auch bei Ihnen eine Diskrepanz zwischen Realität und Wunschdenken?
Klar, jede Menge. Beispielsweise die Diskrepanz zwischen dem Ideal eines autarken Lebens und der Unmöglichkeit eine fünfköpfige Familie ohne Supermarkt durchzufüttern. Das gleiche gilt für mein wildromantisch geprägtes Naturverständnis. Der pittoreske Zauberwald neben dem ich lebe, entpuppte sich bald als gar nicht so zauberhaft. Ich habe mich in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt, wieviel Wildnis wir überhaupt noch ertragen.
Haben Sie es herausgefunden?
Ich zähle mich zwar nicht zu denjenigen, die den Wald am schönsten durch dreifach verglaste Fenster finden, aber wir modernen Menschen sind doch sehr weit von der Natur entfernt. Wir haben keine Hornhaut mehr, wir ertragen weder Kälte noch Hunger noch Schmerzen, und wir sind komplett abhängig von allem, vom Leitungswasser, vom Krankenhaus, von Heizung, Strom, vom ständig zur Verfügung stehenden Nahrungsstrom.
Stadtflucht vs. Landflucht … Es sind oft die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Menschen dazu bringen, ihr Leben zu ändern. Trifft das auch bei Ihnen ein Stück weit zu?
Ich bin in erster Linie aus ganz persönlichen Motiven aufs Land gezogen, vor allem um dort meine Kinder großzuziehen. Die zunehmende Radikalität, mit der ich meinen Traum lebe, ist hingegen gesellschaftspolitisch motiviert. Die Frage, wie naturnah, wie nachhaltig, wie konsumarm, wie autark ich mit meiner Familie lebe, beantworte ich heute ganz anders als vor zehn Jahren.
Wie sieht Ihre Zukunft aus? Als Eremit in den Wäldern?
Natürlich trage ich in mir die Idee des Aussteiger-Daseins. Und obwohl ich ganz genau weiß, was das für ein Unsinn ist, werde ich die Idee auch nicht wirklich los.