Brennpunkt: To gender or not to gender
Um es frei nach Shakespeare zu sagen: Blau oder Rosa, das ist hier die Frage. Mittlerweile ist die teilweise hart geführte Genderdiskussion in der Spielwarenbranche angekommen. iconkids & youth hat untersucht, wie Mütter und Kinder mit dem Thema umgehen. Müssen Industrie und Handel also „Farbe bekennen“? Sibylle Dorndorf erfuhr die Ergebnisse des Research im Gespräch mit Geschäftsführer Ingo Barlovic.
Herr Barlovic, in unserer Erwachsenenwelt kochen derzeit die Gemüter hoch. Gendern oder nicht? Die Diskussion treibt seltsame Blüten und wird teilweise militant geführt. Wie gehen Ihren Recherchen zufolge Kinder das Thema an?
In unserer Repräsentativbefragung für KiKA fanden Kinder die Ansprache „Liebe Schüler“ absolut in Ordnung. Ein explizites Problembewusstsein für die geschlechts- und gendersensible Adressierung konnte nicht erkannt werden. Im Vergleich kam allerdings „Liebe Schülerinnen und Schüler“ sogar noch einen Tick besser an. Man kann also durchaus beide Geschlechter benennen. Mit „Liebe Schüler*innen“ konnten sie aber wenig anfangen. Der Einsatz des Gendersternchen ist damit bei Kindern schwierig und das Thema Gender nicht oben auf der Agenda.
Und wie stellen sich die Mütter dazu? Immerhin sind sie die klassischen Kaufentscheiderinnen für Kinderprodukte.
Für das aktive Gendern spricht sich nur eine Minderheit aus, die aber zum Beispiel oft im Elternbeirat ihre Meinung lautstark vertritt. Allerdings ist die Mehrheit der Mütter der Ansicht, dass ihre Kinder weltoffen erzogen werden sollen. Und dazu gehört selbstverständlich auch das Wissen über alternative Lebensformen oder das Thema Diversität.
In der Spielwarenindustrie versuchen die klassischen „blauen Marken“ (Jungsmarken wie Bruder, ehemals Playmobil und Lego) schon seit geraumer Zeit, sich unisex zu positionieren. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Mädchen anders spielen als Jungs. Haben Sie diesen Trend in Ihre Untersuchungen einbezogen?
Es kommt darauf an, was man unter „unisex“ versteht. Unisex sollte nicht Gleichmacherei bedeuten, denn dies kann Marktanteile kosten. Kinder und Mütter denken noch sehr in Stereotypen und werden eventuell davon abgeschreckt, wenn ein Produkt zu wenig ins Jungs-Mädchen-Schema passt. Was erfolgversprechend ist: Konzepte und Produkte zu kreieren, die niemanden ausgrenzen, durch die Tonalität oder die angesprochenen Grundbedürfnisse aber durchaus noch auf bestimmte Zielgruppen eingehen. Auch Mädchen bauen zum Beispiel gerne, es muss nur nicht für alle ein Technikmonster sein.
Auch die Marketingstrategien der Unternehmen müssen neu gedacht werden. Diversity darstellen, Geschlechterrollen aufbrechen, ist das das Ziel der neuen Kampagnen?
Man muss unterscheiden, wer die Zielgruppe einer Kampagne ist. Themen wie Diversität und Geschlechterrollen aufbrechen interessieren die große Mehrheit der Kinder nicht. Allerdings gibt es langsam ein Umdenken bei einer neuen Elterngeneration, und es gibt Pluspunkte für Unternehmen in der Öffentlichkeit, wenn sie sich ein Thema wie Diversität auf die Fahnen schreiben. Beispielsweise: Wer möchte schon einen Shitstorm riskieren, wenn er zu geschlechtsstereotyp wirbt? Es gilt aber: Themen wie Diversität oder Genderneutralität sind kaum ein Kaufgrund. Am PoS entscheiden zumeist andere Aspekte.
Für den Spielwarenhandel ist das Aufbrechen der Klischees ebenfalls eine Herausforderung. In der PoS-Präsentation teilt sich die Regalwelt immer noch großenteils in Blau oder Rosa. Was müssen Händler*innen heute bei der Beratung berücksichtigen?
Wir haben aktuell über 700 Mütter gefragt, ob es für sie so etwas wie „Typisch Junge“ beziehungsweise „Typisch Mädchen“ gibt. Über 90 Prozent haben etwas genannt. „Typisch Junge“ war zum Beispiel das Interesse für Sport und Technik und fürs Konstruieren. Dazu erscheinen Jungs eher als „laut“, „wild“ und „chaotisch“. Bei Mädchen wurden dagegen oft Äußerlichkeiten thematisiert, daneben das Spielen mit Puppen, aber auch, dass sie „einfühlsam“ und „kreativ“ seien – und zickig. Bei den Müttern sind also immer noch Geschlechterstereotype vorhanden.
Im Vergleich zu einer Studie aus dem Jahr 2006 wurden allerdings positive oder neutrale Eigenschaften häufiger genannt: bei den Jungs zum Beispiel Wildheit und Mut, bei den Mädchen Einfühlsamkeit. Es werden also weiterhin Unterschiede gesehen, nur werden sie positiver konnotiert. Um erfolgreich zu sein, sollten Händler nicht mit „Unisex-Gleichmacherei“ argumentieren, sondern abgeschwächt auf Geschlechterklischees setzen, allerdings neu interpretiert: Dass zum Beispiel Caring bei Mädchen wichtig ist, ein Mädchen aber zusätzlich stark sein kann, wie es Lady Bug von Miraculous vormacht. Die kümmert sich mit ihren Superkräften um die Welt, hat aber daneben ganz normale Teenagerprobleme. Oder denken Sie an die „Eiskönigin“: mutige Heldinnen, die die Handlung bestimmen. Aber: Es sind schön aussehende Heldinnen, sodass Mädchen sich wirklich in sie hineinträumen können. Oder dass ein Junge ein Handicap hat und trotzdem mutig und gut im Sport ist. Benötigt wird eine differenzierte Ansprache, die nicht nur auf die alten Klischees setzt, den Kindern aber dennoch Möglichkeiten zur Identifikation oder Projektion bietet.
iconkids & youth
iconkids & youth wurde 1996 von einem Team erfahrener Kinder- und Jugendforscher gegründet. Seitdem hat sich das Institut zum größten deutschen Spezialinstitut für junge Zielgruppen, für Marktforschung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, entwickelt. Elf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen führen jedes Jahr rund 150 Markt- und Meinungsforschungsstudien durch und stehen im ständigen, intensiven Dialog mit jungen Menschen unter 30 Jahren und ihren Bezugsgruppen.
Bild: Ivan Samkov
Ist das Festhalten an Klischees auf bestimmte soziale Gruppen oder Schichten konzentriert? Andersherum gefragt: Neigt das Bildungsbürgertum eher dazu, Klischees aufzubrechen, oder ist gerade das Gegenteil der Fall?
Für das Gendern setzen sich vor allem junge, gebildetere Frauen ein, die aus gutbürgerlichem Haus kommen. Es sind also gerade Teile des Bildungsbürgertums, die versuchen, Klischees aufzubrechen.
Früher teilte man die Gruppe der Mädchen in „Mädchen-Mädchen“ und „Jungs-Mädchen ein. Die einen spielten Barbie bis zum Abwinken, und die anderen griffen auch mal zum Konstruktionsbaukasten. Gehört das der Vergangenheit an?
Eine Zielgruppe wie „Mädchen“ wird immer hybrider: Mit Barbies spielen und etwas bauen, das ist kein Gegensatz. Dabei spielt aber eine wichtige Rolle, dass seit einigen Jahren selbst Konstruktionsspielzeug erfolgreich klassische Mädchenthemen beziehungsweise -erlebniswelten wie Freundschaft oder Tiere aufgreift.
Und wie ist das mit den Jungs? Ist es heute wirklich schon gesellschaftlich akzeptiert, wenn Jungs zur Puppe greifen?
Das hat weniger mit gesellschaftlicher Akzeptanz zu tun. Jungs suchen Vorbilder, und ein Vorbild ist zum Beispiel der Vater. Da spüren sie intuitiv, wann der stolzer ist: Wenn der Sohn mit Puppen spielt oder mit Lego oder Playmobil – wie es der Vater bereits in seiner Jugend getan hat. Diese Präferenz der Väter funktioniert unbewusst, da können sie selbst sich als noch so liberal sehen. Übrigens spielen die Helden von Paw Patrol oder beliebte Fußballer auch nicht mit Puppen – ebenfalls wichtige Idole der Jungs.
Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass an der rosa Phase oder am Pferdemädchenalter kaum eine Mutter vorbeikommt. Wie sollen sich Eltern also künftig verhalten, wenn sie ihre Kinder fernab jeglicher Klischees erziehen wollen?
Ich halte es für quasi unmöglich, dass Kinder fernab jeglicher Klischees erzogen werden. Die Kinder sehen in den Medien, aber auch bezüglich der Rollenverteilung zu Hause oder bei anderen Kindern, dass es Rollenklischees gibt. Man kann sie nicht davon fernhalten und in ein Aquarium stecken. Viel wichtiger ist es, dem Kind dabei zu helfen, dass es eine starke, selbstbestimmte Persönlichkeit wird – und da darf es als Mädchen auch eine rosa Phase haben oder sich für Pferde interessieren. Pferde sind ja der Traum von Freundschaft und sich um jemand zu kümmern. Außerdem verwachsen sich solche Phasen eh meistens.
Wenn ich Sie abschließend bitte, ein Fazit zu ziehen, wie sähe das aus?
Aus Zielgruppensicht muss Spielspaß vorne stehen, Themen wie Gender oder Diversität sind nur nice to have. Da kann man nicht immer Geschlechterklischees außer Acht lassen. Man sollte sie aber neu interpretieren und eine hybride Ansprache wählen. Zeigen, dass schöne Mädchen auch stark und mutig sind oder einfühlsame Jungs toll Fußball spielen können. Und verstehen, dass Diversität kein Selbstzweck ist. Figuren, die „anders“ sind, müssen für Kinder ebenfalls erstrebenswerte Eigenschaften haben und als Vorbild taugen.
Herr Barlovic, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch!
Nachgefragt
Unternehmer und Unternehmerinnen äußern sich zum Thema genderneutrales Spielzeug.
Gründer und CEO, Micro Mobility Systems
Wir haben so viele Farben bei unseren Produkten, da ist für jedes Geschlecht und jeden Geschmack etwas dabei. Blau und Pink hatten wir nur in den ersten zwei Jahren, also 2003 und 2004, danach gab es jedes Jahr drei neue Farben. Heute haben wir über 50 Varianten. Dazu gibt es unsere Eco-Linie, hier arbeiten wir mit alten Fischernetzen in einem typischen Grün, das sind echte Renner. Nicht wegen der Farbe, sondern wegen der Originalität und dem Umweltgedanken. Von Endkunden haben wir kein Feedback, da wir jenseits von „Blau und Rosa“ agieren, außer bei den Extreme Scooters für die Skateparks. Da gibt es nun auch speziell für Girls Produkte, deren Anteil liegt aber unter zehn Prozent.
Wim Ouboter, Gründer und CEO, Micro Mobility Systems
Gesellschafter Bruder Spielwaren
Auch wenn die Großtechnikfahrzeuge von Bruder traditionell eher Jungs ansprechen, fokussieren wir unsere Marketingaktivitäten nicht in erster Linie auf Jungs. Gerade mit der stetigen Erweiterung unserer bworld-Serie ergeben sich zahlreiche geschlechterneutrale Spielmöglichkeiten. Egal welchen Geschlechts – Bruder-Spielzeuge sollen die Individualität und Entwicklung von Kindern fördern. Jedes Kind hat seine Vorlieben und darf sich auf seine Weise entfalten.
Paul Heinz Bruder, geschäftsführender Gesellschafter Bruder Spielwaren
Das Spielen mit Lego Steinen hat sich schon immer inklusiv an alle Kinder gerichtet. Uns ist es wichtig, dass sich jedes Kind im Lego Universum willkommen und repräsentiert fühlt und sich kein Kind aufgrund seines Geschlechts, seiner Herkunft oder seiner individuellen Interessen darin gehindert fühlt, wie und womit es spielt.
Um die Entwicklung unserer Produkte und Marketingaktivitäten so integrativ und inklusiv zu gestalten wie möglich, haben wir unter anderem in Zusammenarbeit mit UNICEF unser D&I Playbook entwickelt. Zudem ist die Marketing- und Produkt-Kommunikation der Lego Gruppe geschlechtsneutral. Eine Maßnahme dafür ist zum Beispiel, dass die Lego Produkte im Onlineshop nicht mehr nach Geschlechtern, sondern nach Altersklassen und Interessengebieten selektiert werden.
Und selbstverständlich entwickeln wir all unsere Produktlinien kontinuierlich weiter, damit sich Kinder in unseren Produkten repräsentiert und inkludiert fühlen. So haben wir beispielsweise das Universum unserer beliebten Produktlinie Lego Friends modernisiert, um die Welt, die Gesellschaft und das Spielen von Kindern heutzutage besser widerzuspiegeln: Die neuen, diverseren Lego Friends Charaktere und integrativeren Handlungsstränge der TV-Show spiegeln Situationen und Herausforderungen wider, wie sie auch von Kindern in ihrem Alltag erlebt werden.
Karen Pascha-Gladyshev, Geschäftsführerin Lego
Wir sehen das Gendern sehr kritisch – wir haben hier manchmal das Gefühl, dass etwas aufgesetzt werden soll, was nur von einer Minderheit so gesehen wird und jetzt eben socially correct so kommuniziert werden muss. Die meisten Eltern kommen in unseren Elterngesprächen damit sehr gelassen zurecht. Mädchen sind keine Jungs und Jungs sind keine Mädchen – das können wir auch nicht mit noch so vielen Genderprogrammen ändern. Wichtig ist uns, dass wir ihnen Selbstvertrauen geben, dass wir ihre Wurzeln stärken, damit ihre Äste wachsen – egal in welche Richtung. Wir von sigikid glauben an das Kuscheln – und es ist, egal ob rosa, hellblau, grün oder bunt, vor allem eines: gelebte Liebe.
Axel Gottstein, CCO sigikid
Geschäftsführer Schmidt Spiele
Unsere Produktpalette ist überwiegend genderneutral. Das gilt sowohl für unser Spieleportfolio, bei dem wir auf Spielanleitungen mit inklusiver Sprache achten, als auch für das Puzzlesortiment und das Holzspielzeug von Selecta. Daher erhalten wir, sicherlich anders als Unternehmen, deren Produktpalette sich explizit an Jungen oder Mädchen richtet, kaum Feedback oder Anmerkungen zu dieser Thematik – weder von Endkunden noch von unseren Handelspartnern.
Axel Kaldenhoven, Geschäftsführer Schmidt Spiele
Chief Transformation Officer Schleich
Uns ist es wichtig, Kinder auf der ganzen Welt mit unseren Spielzeugen zu begeistern – ganz unabhängig von ihrer Herkunft, Sprache, Kultur oder ihrem Geschlecht. Schleich setzt auf eine Marketingstrategie, in der Diversität und Inklusion im Vordergrund stehen.
Dementsprechend möchten wir auch Jungen und Mädchen gleichermaßen ansprechen und dabei keine Geschlechterunterschiede machen. Unsere Themenwelten wie Farm World oder Wild Life sind in ihren Geschichten und Tieren ganz neutral angelegt. Sie werden sowohl von Mädchen als auch von Jungen mit gleich großer Begeisterung bespielt und gehören unter anderem deshalb zu unseren Klassikern.
Wir setzen bewusst auf eine geschlechterübergreifende Bild-Ansprache und Kommunikation. In unserer Kampagne spielen Mädchen genauso mit Dinosauriern wie Jungs und Jungs genauso mit Pferden wie Mädchen. Die grenzenlose Fantasie der Kinder im Spiel steht für uns in Fokus. Zu dieser Freiheit gehört auch, dass wir Mädchen und Jungen zugestehen, eigene Geschmäcker zu haben: Wir sehen zum Beispiel, dass Mädchen unsere Bayala-Welt favorisieren und Jungen Eldrador Creatures. Die Rückmeldungen aus dem Handel und von den Eltern beziehungsweise den Endkunden ist sehr positiv und bestärkt uns in unserem Ansatz.
Victoria Sutch, Chief Transformation Officer Schleich
Mit Wickeltaschen, die nicht nur rosa oder blau angeboten werden sollten, fing die Geschichte von Lässig an. Als ich mich damals als junge Mutter entschied, mich selbstständig zu machen, wollte ich eine offene Produktwelt anbieten, die Mütter und Väter, aber auch Kinder gleichermaßen anspricht.
Lässig hat es sich seit über 15 Jahren zur Aufgabe gemacht, nachhaltige, funktionale und stylishe Produkte für die ganze Familie zu kreieren. Uns ist es wichtig, dass sich Kinder und Eltern mit unseren Produkten rundum wohlfühlen, Spaß haben und ihren Familienalltag mit ruhigem Gewissen in vollen Zügen genießen können. Dabei haben wir stets die individuellen Bedürfnisse der Familienmitglieder – unabhängig von ihrem Geschlecht – im Blick. Gendern ist ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Wandels. Als junges und dynamisches Familienunternehmen mit einem hohen Anspruch an Verantwortungsbewusstsein war es für uns in den letzten Jahren selbstverständlich, diese Entwicklung zu berücksichtigen und mit aufzunehmen.
Wir haben uns deshalb vor zwei Jahren dazu entschieden, in unserer internen sowie externen Kommunikation zu gendern, um Inklusion zu fördern und Diversität zu normalisieren. Hierbei verwenden wir soweit möglich geschlechtsneutrale Formulierungen sowie den Gender-Gap. Wir haben uns bewusst mit den verschiedenen Bereichen unseres Unternehmens auseinandergesetzt und an verschiedenen Stellen Anpassungen vorgenommen, wie beispielsweise in der Formulierung von Artikelbezeichnungen, bei Stellenausschreibungen oder der Ansprache auf unserem Corporate Blog beispielsweise. Die Frage nach einer Trennung unserer Produkte in „Rosa“ oder „Blau“ hat sich für uns nie gestellt.
Claudia Lässig, Managing Director Lässig