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Brennpunkt: Die Lesekompetenz unserer Kinder geht alle an

20. September 2023, 16:38

Seit den verheerenden Ergebnissen der IGLU-Studie zum Lesevermögen deutscher Grundschulkinder sind einige Monate vergangen. Passiert ist seitdem frappierend wenig. Warum eine breite Lesekompetenz aber so wichtig für die Gesellschaft ist, wie man Lesefreude fördert und was nun zu tun wäre, erläutert die Autorin Katja Meinecke-Meurer im nachfolgenden Beitrag.

IGLU – diese Abkürzung steht für „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“. Dabei wird bereits seit 2001 regelmäßig das Lesevermögen von Schülerinnen und Schülern der vierten Jahrgangsstufe untersucht und im internationalen Vergleich gegenübergestellt. Seit dem 16. Mai 2023 ist IGLU aber auch zu einem Synonym geworden für eine signifikant sinkende Lesekompetenz der Kinder in Deutschland! Denn an diesem Tag wurde die mittlerweile fünfte IGLU-Studie veröffentlicht, an der die Bundesrepublik teilgenommen hat – mit bedenklichen Ergebnissen. So erreicht ein Viertel der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland nicht den international festgelegten Standard für eine Lesekompetenz, die für einen erfolgreichen Übergang vom „Lesen lernen“ zum „Lesen um zu lernen“ notwendig ist.

Dieser Anteil ist mit 25,4 Prozent im Vergleich zu den letzten Studien auch nochmal deutlich gestiegen (2016: 18,9 Prozent, 2001: 17,0 Prozent). Nochmal kurz zur Verdeutlichung: Ein Viertel unserer Kinder kann in der vierten Klasse nicht sinnentnehmend lesen!
Entsprechend laut war in den darauffolgenden Tagen und Wochen der öffentliche Aufschrei: „Das deutsche Schulsystem hat ein Problem“ analysiert das ZDF. „Eine Katastrophe für die Gesellschaft“ ergänzt die ARD-Tagesschau. Während Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, fordert, dass „Leseförderung ab jetzt höchste Priorität haben muss“, ernennt die Autorin Kirsten Boie Lesekompetenz zu einer „nationalen Aufgabe“. Und die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger? Kommentiert, dass „wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen.“ Seitdem sind einige Monate vergangen und passiert ist: erschreckend wenig!
Dabei müssten diese Ergebnisse doch gerade im Land der Dichter und Denker zu einer regelrechten Bildungsrevolution führen? Überraschend und gleichzeitig hoffnungsvoll ist ja dieser Fakt: Die deutschen Kinder lieben Lesen! So zählt laut dem aktuellen Kids-Medien-Kompass 2023 von Blue Ocean Entertainment das Lesen für 41 Prozent der Kinder im Grundschulalter nach wie vor zu den Lieblingsbeschäftigungen. Die Fans sind also vorhanden – ebenso wie die für das Lesen erforderliche Intelligenz! Wir schaffen es als Nation einfach nur nicht, unseren Kindern das Lesen in einem ausreichenden und nachhaltigen Maße beizubringen.


Katja Meinecke-Meurer (© Rudi Ott)

Katja Meinecke-Meurer ist seit 2017 Geschäftsführerin des Tessloff Verlags. Die gelernte Buchhändlerin und studierte Buchwissenschaftlerin begann ihre Laufbahn im Gütersloher Verlagshaus. Danach folgten verschiedene Positionen in der DirectGroup Bertelsmann sowie als Mitglied der Geschäftsleitung des Wissenmedia Verlags. Daneben war sie Gründerin der auf Medienproduktion spezialisierten Agentur initiale. Seit 2017 ist sie Geschäftsführerin des Tessloff Verlags.


Motivation ist der Hebel
Doch woran liegt das? Um dies zu ergründen, müssen wir einen Schritt zurückgehen. Und uns ansehen, was Lesen überhaupt bedeutet. Lesen zählt zu den sogenannten Sprachkompetenzen und besteht aus vielen einzelnen Teilhandlungen: Buchstaben erkennen und dem richtigen Laut zuordnen, Laute zu Silben und letztendlich zu Wörtern verbinden, Wörter verstehen und wiedererkennen, diese wiederum zu Sätzen beziehungsweise zu ganzen Texten zusammenfügen, deren Sinn erfassen und wiedergeben können. Im Prozess des Lesenlernens werden diese Teilhandlungen nach und nach automatisiert. Solange dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, wird Lesen als anstrengend empfunden und die Lesefreude bleibt aus. Die Lösung: Die Lesemotivation durch die richtigen Bücher und Produkte fördern und – wie sollte es anders sein – kontinuierliches Üben!
Besonders in der Auswahl der Motivationsmaßnahmen liegt ein großer Hebel! Denn Kinder sind von Natur aus wissbegierig und lassen sich mit ihren Lieblingsthemen leicht begeistern. Gleichermaßen altersgerechte u n d interessenorientierte Erstlese-Sachbücher können also den Grundstock bilden für eine Lesefähigkeit, die Kompetenz und Leidenschaft verbindet! Auch durch den richtigen konzeptionellen Aufbau der Bücher kann eine Menge erreicht werden: Ein gutes Erstlesebuch ermöglicht Kindern durch Typografie, Layout, Bildmotive, Inhalt und Konzeption einen einfachen Einstieg ins Buch, damit sie „technisch“ gut lesen können, was zum Weitermachen motiviert. Daraus entsteht ein schöner Kreislauf aus „Ich schaffe das“ und „Ich bleibe dran“, sodass dem Lese-Erfolg nichts mehr im Wege steht! Wichtig ist, dass das Üben nicht zur Qual wird. Oder im übertragenen Sinne: Wer seinem Kind das Schwimmen beibringen will, zieht ihm ja auch keine Bleiweste an.
Als einer der größten Kindersachbuchverlage in Deutschland ist Tessloff seiner Bildungsverantwortung sehr bewusst und entwickelt seine Titel mit größtmöglicher didaktischer Sorgfalt. Mal ein kurzer Einblick in die Entstehung unserer Erstlese-Reihe: Unser Fachlektorat arbeitet fast ein Jahr an jedem Band, bis alles perfekt ist. Mancher Satz braucht Tage, bis er steht! Doch der Aufwand lohnt sich und der Erfolg unserer Buchreihe „Erstes Lesen (easy!)“ gibt uns Recht. Sachinhalte lassen ein optimales Verhältnis von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Texten zu. So werden zahlreiche verschiedene Leseeinstiege geschaffen, die gleichsam schwache wie starke Lesende abholen, jedes Kind wählt seinen individuellen Einstieg.

Lesen steigert die Intelligenz
Doch warum ist es überhaupt so wichtig, lesen zu können? Fangen wir mal mit dem ganz normalen Lebensalltag an: Jede und jeder von uns hat jeden Tag schätzungsweise Tausende von Kontaktpunkten mit geschriebenen Inhalten – dazu muss man noch nicht einmal ein Buch in die Hand nehmen! Vom Hinweis auf der Müslipackung über Straßenschilder und Messenger-Nachrichten bis hin zu Gebrauchsanweisungen, Verträgen und Kassenzetteln. Lesekompetenz ist also eine Lebenskompetenz in Reinkultur! Eine Kompetenz, die in Deutschland bei weitem nicht alle beherrschen: So hat die LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg aufgezeigt, dass 6,2 Millionen Menschen oder 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können – fast doppelt so viele als vorher angenommen. Demgegenüber steht die vielfach erwiesene Bedeutung dieser Fähigkeit: Eine frühe Lesekompetenz beeinflusst die spätere intellektuelle Entwicklung positiv und steht in Zusammenhang mit besseren kognitiven Leistungen und psychischem Wohlbefinden im Jugendalter. Eine Studie der Yale Universität hat ergeben, dass Lesen nicht nur die Fantasie fördert und die Vorstellungskraft trainiert. Es hilft uns darüber hinaus zu entspannen. So manche Erhebung bringt auch kuriose Erkenntnisse mit sich: Lesen Heranwachsende in ihrer Jugend freiwillig mindestens zehn Bücher, verdienen sie als Erwachsene rund 21 Prozent mehr Gehalt. Und: Die Lebenserwartung derer, die bis zu 3,5 Stunden pro Woche lesen, liegt um 17 Prozent höher als die der Nichtleser!
Unbestritten ist: Lesen steigert die Intelligenz, ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe, fördert die Fantasie, stärkt unsere Demokratie und sichert nicht zuletzt der Wirtschaft den gerade dringend benötigten Fachkräfte-Nachwuchs! Und trotzdem sprechen die Ergebnisse der letzten IGLU-Studie eine deutliche Sprache. Doch woran liegt das? Sicherlich zum einen an unserer Bildungsbürokratie mit den verschiedenen Zuständigkeiten und Entscheidern auf lokaler, kommunaler, regionaler und nationaler Ebene. Oft dauert es fast ein Schuljahr, um Erstklässlerinnen und Erstklässler auf ein gemeinsames Level zu bekommen – hier verlieren wir schon viel zu viel Zeit! Zum anderen erleben wir beim Tessloff Verlag durch unser Auslandsgeschäft hautnah, dass Bildung in anderen Ländern ein deutlich höherer Stellenwert eingeräumt wird. Und hierzulande: wird über Etatkürzungen im Bildungsbereich diskutiert, gibt es einen eklatanten Mangel an Erziehern und Lehrern, tritt die Digitalisierung in unseren Schulen auf der Stelle. Was also braucht es, damit wir eben nicht von einem Land der Dichter und Denker zu einem Land der Analphabeten werden?


Erfolgreiche Produkte und Projekte zur Leseförderung? Gibt es!

Was ist Was Podcast
Was ist Was goes Audio! Mit dem Podcast erreicht Tessloff auch Kinder, die sich nur ungern Wissensstoff aneignen, und macht sie neugierig auf Bücher.

BOOKii
Antippen, Spielen, Lernen – mit dem digitalen Hörstift von Tessloff können Kinder spielend einfach spannende Sachinhalte entdecken.

Buchreihe Was ist Was Erstes Lesen / Erstes Lesen easy!
Klar strukturiert, leicht lesbar und trotzdem unterhaltsam – die ideale Lektüre für Leseeinsteiger!

Aktion Anstoß
Der Tessloff Verlag ist Förderer der Initiative der Nürnberger Stadtbibliothek und stattet jedes Jahr alle Abc-Schützen in Nürnberg mit Erstlese-Büchern aus.

Buchstart Hamburg
Seit Anfang 2007 erhält jedes einjährige Kind in Hamburg über den Kinderarzt seine eigene Buchstart-Tasche.

LeseOasen
Save the Children Deutschland e. V. richtet an Ganztagsschulen lesefreundliche Räume mit einem vielfältigen niedrigschwelligen Medienangebot ein.

Jedem Kind ein Buch!
Der Verein bücherleben verteilt in der Adventszeit aktuelle Kinderbücher unterschiedlicher Verlage an Oberhausener Kinder, in diesem Jahr rund 16.000 Bücher.

Bundesweiter Vorlesetag
Der Klassiker unter den Lese-Initiativen! Seit 2004 wird jedes Jahr im November zum gemeinschaftlichen Vorlesen aufgerufen.


Zehn-Punkte-Plan für mehr Lesekompetenz in Deutschland

  1. Niedrigschwellige (Vor-)Leseangebote bereits für Kleinstkinder und deren Eltern.
  2. Eine frühzeitige systematische Sprachförderung in den Bildungseinrichtungen.
  3. Eine Erhöhung statt Kürzung der Bildungsausgaben.
  4. Die gezielte Ausbildung von Erziehenden und Lehrkräften in Lese- und Sprachförderung.
  5. Spezifische Fortbildungen für ebendiese Zielgruppe, um Kompetenzrückstände bei Kindern auszugleichen.
  6. Mehr Raum für das Lesen in Lehrplänen!
  7. Ein breitgefächertes Produktangebot, um Kinder spielerisch fürs Lesen zu gewinnen.
  8. Die Expansion von bereits existierenden regionalen Erfolgsprojekten.
  9. Eine kluge Imagekampagne für das Lesen, die alle Generationen und alle Bevölkerungsschichten anspricht
  10. Ein breites Bündnis aus Wirtschaft, Politik, Bildungs- und Buchbranche, um einen Aktionsplan Leseförderung zu entwickeln, zu finanzieren und umzusetzen.

Die Stellschrauben sind also vorhanden, der Werkzeugkoffer steht bereit – wenn doch nun endlich auf breiter Ebene erkannt wird, dass Lesekompetenz kein Randgruppenthema der Kinderbuchbranche ist – sondern eines, das uns alle etwas angeht! Um mit einem Zitat des Bundesverbands Leseförderung zu enden: „Wer liest, lernt verstehen. Wer versteht, kann Fragen stellen. Wer Fragen stellt, kann Dinge verändern.“ Und ist „Dinge verändern“ nicht genau das, was unser Land gerade so dringend braucht?


Wie können wir Leseliebe an die nächste Generation weitergeben?


Jeder Leseakt in der Freizeit, der nicht der Orientierung in der Welt oder der Partizipation dient, ist gut und tut gut – nach allem, was wir wissen, entfaltet Lesen aber erst im gedruckten Buch und mit anspruchsvollen Inhalten sein volles Potenzial.
Prof. Dr. Christoph Bläsi, Professor für Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz


Die beste Leseförderung ist es, Kinder möglichst früh und möglichst oft mit den magischen Welten zwischen den Buchdeckeln in Kontakt zu bringen. Dabei sind wir alle gefragt: Autor*innen, Verlage, pädagogische Fachkräfte, Bibliotheken und außerschulische Lernorte und natürlich die Eltern.
Birk Grüling, freier Journalist und Autor


Lesen fördern bedeutet, die Liebe zum Lesen zu wecken und diese Begeisterung auch zu erhalten. Hierbei hilft, wenn Eltern bereits im Babyalter ihrer Sprösslinge ebenfalls Spaß am Lesen der Kinderbücher haben. Wenn dies gelingt, entwickelt sich aus einer positiven Basis eine entsprechende Wechselwirkung zu den zukünftigen Lesegewohnheiten von Kindern.
Cornelia Krüger, Sortimentsmanagerin Kinderwelt / Buchhandlung Hugendubel


Kinder lieben Geschichten und möchten wissen, wie die Welt um sie herum funktioniert. Das sind die besten Voraussetzungen, um die Lesemotivation bei Kindern zu wecken. Neben einer vielfältigen Auswahl an Büchern sollten wir die Kinder am Anfang an die Hand nehmen und mit ihnen gemeinsam die Welt der Bücher entdecken. Und dann müssen wir sie entscheiden lassen, was sie lesen – Hauptsache, es macht Spaß.
Barbara Müller, Geschäftsführerin der avj / Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen e. V.


Mit den richtigen Geschichten und der richtigen Zielgruppenansprache sind die jungen Leser*innen nach wie vor zu begeistern, wie der aktuelle Erfolg der Young Adult und New Adult Bestseller zeigt. Dies zieht sich durch alle Altersklassen und begründet sich auf der unglaublich großen Bandbreite an Themen wie Freundschaft, Coming of Age, Krieg und Frieden u.v.m. Noch mehr Kinder und Jugendliche bekämen wir zum Lesen, wenn sie diese tollen aktuellen Bestseller in den Schulbibliotheken finden würden, um auch die eher lesefernen Kinder abzuholen.
Bernd Herzog, Leiter Vertrieb bei frechverlag GmbH und Vorstandsvorsitzender der avj / Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen e. V.


Es braucht eine Kombination aus Lesekompetenz und Leselust – hier spielen die Eltern als Vorbilder eine wichtige Rolle. In den Schulen ist in Folge aber auch eine individuelle Leseerziehung wichtig, was in Zeiten von Personalmangel und der zunehmenden Entprofessionalisierung des Lehrerberufs immer schwieriger wird. Dabei ist Lesen ein so wichtiger Baustein, um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen!
Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes