Branche: Spielen kennt keine Grenzen
Ob in Tokio, Berlin oder Kapstadt – Kinder spielen überall. Doch welche Spielzeuge begeistern in unterschiedlichen Kulturen? Wie unterscheiden sich Kinder weltweit im Spielverhalten und welche Trends prägen den internationalen Markt? Professorin Dr. Wiebke Waburg beleuchtet im Interview kulturelle Unterschiede, internationale Trends und die Herausforderungen für Hersteller.

Frau Waburg, wie stark unterscheiden sich die Spielgewohnheiten von Kindern weltweit – insbesondere beim freien Spiel drinnen und draußen?
Insgesamt sind die Spielgewohnheiten für Kinder aus WEIRD-Ländern (western, educated, industrialized, rich und democratic) deutlich besser erforscht als für Kinder, die in Global-Majority Ländern leben. In industriell und strukturell stark entwickelten Ländern wird Kindern meist viel Zeit für das Spielen eingeräumt. Spielen hat besonders in der kindlichen Entwicklung und der Förderung in Kindergarten und Schule einen hohen Stellenwert, Erziehende animieren Kinder gezielt aktiv zum Spielen. Dabei sollen die Individualität, Unabhängigkeit und Selbstentfaltung der Kinder gefördert werden. Das Spielen in weniger stark entwickelten und ökonomisch schwächeren Ländern findet oft unter anderen Rahmenbedingungen statt. Dies geht häufig mit einem den geringen Ressourcen geschuldeten deutlich begrenzteren Angebot an Spielzeug einher. Statt Spielzeug direkt von den Eltern und anderen Bezugspersonen zur Verfügung gestellt zu bekommen, nutzen die Kinder in solchen Ländern öfter natürliche Materialien und Alltagsgegenstände, um damit zu spielen. Auch die Spielorte sind deutlich öfter in der freien Natur oder befinden sich an Orten, welche auch für andere Tätigkeiten genutzt werden, wie zum Beispiel ein Marktplatz, auf welchem die Kinder nachmittags spielen. In Global-Majority-Ländern ist die Grenze zwischen Spiel und Arbeit oft verschwommen. Da Kinder durch die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft lernen, beinhaltet dies oft Beiträge zur wirtschaftlichen Produktivität der Gruppe, wie zum Beispiel die Bewirtschaftung von Feldern oder die Übernahme von Haushalts- und Care-Tätigkeiten.
Gibt es universelle Spielbedürfnisse, die Kinder unabhängig von Land oder Kultur teilen?
Spiel ist ein universelles Phänomen: Alle Kinder spielen – die Art und Weise, wie sie Spiel wahrnehmen, definieren und sich darin engagieren, ist kulturell geprägt. Das heißt, dass Werte, Überzeugungen und kulturelle Routinen der Gemeinschaft darauf Einfluss nehmen, wie Kinder in ihrem täglichen Leben spielen.
Welche Rolle spielen klimatische oder geografische Bedingungen beim Spielverhalten – zum Beispiel Outdoor-Spiele?
Klimatische und geografische Bedingungen sind Teil der räumlichen Aspekte, die Spielsituationen und damit Spielverhalten beeinflussen: Wird auf einer Wiese oder in einem ausgetrockneten Flussbett gespielt? Welche Naturmaterialien stehen zum Spielen zur Verfügung? Kann gekauftes Spielzeug langfristig genutzt werden oder kann es klimatischen Gegebenheiten (etwa einem feucht-warmen Klima) nicht standhalten?
Welche kulturellen oder sozialen Faktoren beeinflussen, wie und wo Kinder spielen dürfen?
Neuere kulturvergleichende Studien stellen die Annahme in Frage, dass Eltern in westlichen, technologisch entwickelten Gesellschaften dem Spielen als Teil der kindlichen Entwicklung einen höheren Stellenwert beimessen, während Familien in Ländern des globalen Südens das Spielen als nachrangig für die kindliche Entwicklung betrachten. Vielmehr sind es Kontexte – insbesondere wirtschaftliche Knappheit, Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Kinder und technologische Veränderungen –, die die Spielmöglichkeiten einschränken. Hier kommt die ganze Palette an Faktoren zum Tragen, die beeinflussen, welche Spielorte, Spielzeuge, Spielzeit und Spielpartner bespielt werden dürfen. In vielen Ländern spielten deutlich mehr Jungen als Mädchen draußen oder auf einem Spielplatz.
Wie wirkt sich Urbanisierung auf das kindliche Spielen im Freien aus – vor allem im internationalen Vergleich?
Die Urbanisierung beeinflusst das kindliche Spielen im Freien tiefgreifend – jedoch auf sehr unterschiedliche Weise, abhängig von regionalen Bedingungen, städtebaulichen Gegebenheiten, der Sicherheitslage, dem sozialen Umfeld sowie den jeweiligen kulturellen Vorstellungen von Kindheit und Spiel. Prognosen zufolge werden Kinder in Industrieländern wie den USA, Großbritannien oder Australien künftig zunehmend weniger Zeit im Freien verbringen. Gründe dafür liegen unter anderem im Mangel an geeigneten Spielflächen im Außenbereich sowie in elterlichen Sorgen um Sicherheit, Verkehr und Kriminalität. Hinzu kommt, dass Kinder heute deutlich mehr Zeit mit digitalen Medien und elektronischen Geräten verbringen als früher.
Wie entwickelt sich das Verhältnis von Indoor – zu Outdoor-Spielen weltweit? Beobachten Sie Verschiebungen?
Bestehende Studien zeigen, dass das Draußen-Spielen von Eltern häufig als gefährlich angesehen wird. In Ländern des globalen Nordens unter anderem wegen des zunehmenden Straßenverkehrs, in Ländern des globalen Südens sorgen sich Eltern wegen der Umweltverschmutzung und Keimen als Gesundheitsrisiko, zum Teil befürchten sie, dass ihre Kinder Opfer von Menschenhandel werden. Diese Einschätzung hat meines Erachtens zur Folge, dass Kinder weniger draußen spielen und sich (in WEIRD-Ländern wie zum Beispiel Großbritannien) im Vergleich zu den eigenen Eltern deutlich später alleine eigenständig draußen aufhalten dürfen
Welche Bedeutung haben digitale Spiele im Indoor-Bereich international – und wie verdrängen sie klassische Spielformen?
Es wird davon ausgegangen, dass digitale Spiele eine große Bedeutung haben, auch in vielen Ländern des globalen Südens. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass klassische Spielformen wie Explorationsspiel, Konstruktions-, Rollen- und Regelspiel gänzlich verdrängt werden.

Gibt es Länder, in denen besonders viel Wert auf das Spielen im Freien gelegt wird? Was können andere davon lernen?
Mir ist zu dieser Frage keine spezifische Studie bekannt. Unter Spielen im Freien versteht man allgemein alle von Kindern selbst initiierten Aktivitäten, die unter geringer Aufsicht stattfinden und eine Interaktion mit der natürlichen Umgebung einschließen – etwa mit Bäumen, Steinen, Pflanzen, Erde oder Wasser. Dazu zählen aber auch andere Outdoor-Aktivitäten wie Sport oder Picknick im Park. Die Zeit im Freien kann somit sehr unterschiedliche Formen annehmen, wird jedoch häufig mit körperlicher Bewegung in Verbindung gebracht. Studien zeigen, dass das freie Spiel draußen die Entdeckerfreude und Kreativität von Kindern anregt, da ihnen dort eine größere Vielfalt an Materialien, Flächen und Objekten zur Verfügung steht. Besonders für die Gehirnentwicklung im frühen Kindesalter ist dies bedeutsam, da Kinder die Welt über ihre Sinne erfahren und auf vielfältige Reize angewiesen sind. Darüber hinaus weisen Forschungsergebnisse darauf hin, dass das Spielen in der Natur positive Effekte auf die körperliche und psychische Gesundheit, die soziale Kompetenz, die Resilienz und die Lernfähigkeit von Kindern hat.
Inwiefern unterscheidet sich das Spielzeugangebot? Besonders im Hinblick auf Outdoor-Spielgeräte?
Dazu liegen mir keine Daten vor. Ich gehe davon aus, dass das Angebot in WEIRD-Ländern deutlich größer ist, was vor allem mit der Kaufkraft zu tun hat und der Bedeutung, die (Lern-)Spielzeugen für die Entwicklung von Kindern zugeschrieben wird. Als maximaler Kontrast kommen mir vor allem Bilder von Kindern in den Sinn, die Fußball spielen – und das häufig mit selbst hergestellten Bällen, zum Beispiel in Flüchtlingscamps oder Schulen in ostafrikanischen Ländern. Kritisch wird teilweise gesehen, dass westliche Spielzeuge, Spielgeräte oder Spielplätze scheinbar wahllos in Ländern des globalen Südens angeschafft werden, ohne Rücksicht auf lokale Ästhetik, Werte oder Anforderungen an diese.
Was sagen internationale Studien oder Daten über die tägliche Spielzeit von Kindern – indoor und outdoor?
Hier gibt es unterschiedliche Zahlen. Für UK wird berichtet, dass Kinder im Jahresdurchschnitt etwa drei Stunden pro Tag spielen, wobei etwa die Hälfte des Spielens im Freien stattfindet. Andere, deutlich pessimistischere Schätzungen gehen davon aus, dass Kinder in westlichen Ländern (zum Beispiel USA, Großbritannien und Australien) bis zu 90 Prozent ihrer Zeit in Innenräumen verbringen und manche Vorschulkinder nicht jeden Tag draußen spielen.
Welche Spieltrends beobachten Sie aktuell in verschiedenen Weltregionen – gibt es zum Beispiel einen Outdoor-Trend in bestimmten Ländern?
Im ostasiatischen Raum scheint es einen Trend hin zur stärkeren Kultivierung von Outdoor-Spiel(zeugen) zu geben – allerdings habe ich von dieser Entwicklung aus Presseberichten erfahren und kann den Trend nicht weiter ausdifferenzieren. Er hängt möglicherweise mit dem Leben in Super-Großstädten und dem Zusammenleben auf engem Raum zusammen. Möglicherweise wird der Trend, dass Erwachsene Spielzeug für sich kaufen (Kidults) anhalten oder sich verstärken.
Wie stark ist die Spielzeugindustrie an der Gestaltung globaler Spielkulturen beteiligt?
Hier sehe ich einen sehr großen Einfluss von international agierenden Spielwarenherstellern, die Spielzeuge produzieren. Einige Konzerne dominieren den Markt und arbeiten unter anderem mit franchisebasierten Strategien: Figuren und Welten aus Filmen, Serien oder Spielen werden in Spielzeug übersetzt und international verkauft. So werden teilweise globale Leitbilder des Spielens produziert, die häufig westlich geprägt sind. Spielwaren legen bestimmte Möglichkeiten des Spielens nahe, Kinder können aber auch ganz eigensinnig damit spielen und neue Spielwelten entwickeln.
Wie verändert Migration das Spielverhalten?
Studien liegen hierzu meines Wissens keine vor. Veränderungen dürften die Spielzeuge, Spielorte und Spielpartner betreffen. Dass beziehungsweise auch in (Grund)Schulen spielerisch gelernt wird, ist nicht in allen Herkunftsländern so. In einem neuen Land verbringen Familienmitglieder zunächst sehr viel Zeit miteinander, weil soziale Kontakte noch geknüpft werden müssen. Kindliche Spielpartner fehlen in der ersten Phase nach der Migration und Eltern sind gegebenenfalls noch nicht erwerbstätig – das kann dazu führen, dass Eltern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und häufiger mit ihnen spielen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des kindlichen Spiels – global betrachtet?
Ich wünsche mir, dass alle Kinder freiwillig und selbstbestimmt spielen können – was auch immer das in ihrer Herkunftsgruppe genau heißt. Wichtig ist vor allem, dass das Spielen Spaß macht, durch Neugier getrieben sein kann und zu weiteren Aktivitäten aktiviert.
