Branche: Ein Riesenproblem für die Wirtschaft
Asiatische Online-Billig-Plattformen wie Temu, Shein oder Wish sind für europäische Behörden außer Reichweite, obwohl über sie täglich tonnenweise nicht EU-konforme Produkte direkt an den Endkunden geliefert werden. Das ist nicht nur eine Gefahr für die einheimischen Unternehmen, sondern auch für die Kinder, die mit den unsicheren Produkten in Kontakt kommen. Der Rechtsanwalt Dr. Arun Kapoor, ist Leiter des Bereichs Produktregulierung bei der Kanzlei Noerr und auf die Themen Produkthaftung und Product Compliance spezialisiert. Lioba Hebauer hat mit ihm aktuelle Entwicklungen und rechtliche Fragen zu den Plattformen aus Fernost erörtert.

Herr Dr. Kapoor, eine provokante Frage zu Beginn: Ein deutscher Hersteller verkauft über einen hier ansässigen Händler ein Produkt für Kinder. Ein Kleinteil löst sich, ein Kleinkind verschluckt es und erstickt um ein Haar. Bei Temu, Shein oder Wish bestellt eine Mutter dasselbe Produkt. Auch hier löst sich ein Kleinteil und ein Kind erstickt fast daran. Wer trägt in dieser Konstellation welche strafrechtlichen beziehungsweise haftungsrechtlichen Konsequenzen?
Ich finde Ihre Frage ganz und gar nicht provokant! Wenn die verantwortlichen Wirtschaftsakteure in Deutschland oder in Europa sitzen, sind sie für Behörden Staatsanwaltschaften und Geschädigte grundsätzlich greifbar. Wenn der Unfall auf ein sicherheitstechnisch fehlerhaftes Produkt zurückzuführen ist, haftet der Hersteller grundsätzlich für die finanziellen Folgen des Unfalls nach europäischem Produkthaftungsrecht. Strafrechtliche Konsequenzen drohen ihm nur dann, wenn sein Verhalten im Einzelfall strafbar war – etwa wenn der Hersteller die Gefährlichkeit des Produkts kannte, es aber trotzdem weitervertrieben hat. Wenn das Produkt vom Verbraucher allerdings direkt von einem Verkäufer aus China bezogen wird, gibt es in Europa aktuell niemanden, der für die finanziellen Schäden aufkommt.
Handel und Hersteller müssen sich in Europa an eine Vielzahl strenger Regelungen bei Produkten für Babys und Kinder halten – etwa bei der Produktsicherheit oder der Kennzeichnungspflicht, und das ist gut so. Warum können asiatische Billigplattformen diese Regelungen umgehen?
Streng genommen sind es nicht die Verkaufsplattformen, die diese Vorgaben umgehen, sondern die Hersteller und Händler, die die Produkte über die Verkaufsplattformen verkaufen. Anders als Hersteller, Einführer und Händler sind Online-Plattformen keine Wirtschaftsakteure im Sinne des europäischen Produktsicherheitsrechts. Nur die genannten Wirtschaftsakteure können aber von den Behörden belangt werden, wenn sie die in Europa geltenden Vorgaben nicht einhalten. Sind diese Wirtschaftsakteure in einem Drittstaat ansässig, wird es für die europäischen Behörden nahezu unmöglich, die Einhaltung der hier für Produkte geltenden Anforderungen wirksam durchzusetzen.
Die EU-Kommission hat ja erst jüngst angekündigt, Maßnahmen gegen Online-Plattformen einzuleiten. Was ist hier der Plan und welche Wirkungen kann man in welchem Zeitrahmen erwarten?
In der Tat hat die EU-Kommission ein Maßnahmenpaket vorgestellt, das einen sicheren und nachhaltigen E-Commerce-Handel gewährleisten soll. Dabei wurden allerdings kaum neue Regulierungen vorgeschlagen, sondern verschiedene Werkzeuge zur Gewährleistung eines sichereren E-Commerce. Das Paket beinhaltet etwa einen Vorschlag für priorisierte Zollkontrollen für Produkte, die von Verbrauchern direkt aus Drittstaaten bestellt werden. Außerdem sollen mit Hilfe von KI-Tools nicht konforme Produkte im E-Commerce leichter erkannt werden. Ich gehe aber nicht davon aus, dass sich die Anzahl der in die EU eingeführten, nicht konformen Produkte durch die angekündigten Maßnahmen binnen eines Jahres massiv reduzieren lassen wird.
Welche Gefahr besteht für unsere Handels- und Industrieunternehmen, wenn diese EU-Maßnahmen erst spät greifen?
Der weitgehend unkontrollierte Zufluss von Verbraucherprodukten aus Drittstaaten, die nicht den europäischen Anforderungen entsprechen, ist für die hiesige Wirtschaft natürlich ein Riesenproblem. Wenn Produkte europäischer Unternehmen nicht mit den hier geltenden Anforderungen übereinstimmen, müssen sie mit Vertriebsverboten, Rückrufen, Bußgeldern und Strafen rechnen. Diese Unternehmen stehen im Wettbewerb mit Herstellern und Händlern in Fernost, die für die europäischen Behörden außer Reichweite sind. Und dieser Wettbewerb ist selbstredend nicht fair. Für manch einheimisches Unternehmen ist dieser unfaire Wettbewerb unmittelbar existenzbedrohend. Ob die geplanten Maßnahmen der EU für diese Unternehmen noch rechtzeitig kommen, ist fraglich.
Was können einzelne Unternehmen und Verbände tun, um sich gegen den unfairen Wettbewerb zu wehren?
Die betroffenen Unternehmen und Verbände in Europa sind gut beraten, die politischen Entscheidungsträger in Europa und in den Mitgliedsstaaten weiterhin beständig auf das Problem aufmerksam zu machen. Dabei kann auch die etwa durch Verbände koordinierte Durchführung von Produktprüfungen eine Rolle spielen, um Verstöße gegen die geltenden Produktsicherheitsvorgaben in Europa möglichst rechtssicher zu dokumentieren.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern werden Secondhand-Marktplätze immer beliebter. Mit welchen rechtlichen Konsequenzen müssen Endverbraucher rechnen, wenn sie (möglicherweise nicht konforme) Kinderausstattung verkaufen, die sie zuvor auf asiatischen Billigplattformen geordert haben?
Grundsätzlich haben Verbraucher, die auf Online-Verkaufsplattformen erworbene Produkte in gebrauchter Form weiterveräußern, nichts zu befürchten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht wissen, dass die betreffenden Produkte gefährlich sind oder den hier geltenden Sicherheitsanforderungen nicht entsprechen. Letztlich spielt auch in diesem Kontext die Verbraucherinformation eine große Rolle. Die europäischen Verbraucher müssen wissen, dass Produkte, die sie von Verkäufern in Fernost über Online-Verkaufsplattformen erwerben, nicht auf die hier geltenden produktsicherheitsrechtlichen Vorgaben überprüft werden.
noerr.com/de/professionals/kapoor-arun
Hersteller von Baby- und Kleinkindprodukten beobachten diese Entwicklung mit Besorgnis. So sagt Oliver Beger, Geschäftsführer von tfk/Trends for Kids GmbH: „Tausende Fernost-Kinderwagen rollen nach Europa! Auch großformatige Kinderprodukte wie Kinderwagen oder Autokindersitze, die hierzulande strengen Sicherheitsvorschriften unterliegen, werden aus Fernost nach Europa importiert – über Online-Plattformen oder einfach per Lkw durch Händler, die direkt an der Haustür verkaufen.“ Während der Unternehmer aus Niederbayern höchsten Wert darauf legt, seine geländegängigen Kinderwagen vom TÜV prüfen zu lassen, kann er bei der Importware oft auf den ersten Blick erkennen, dass sie den EU-Richtlinien nicht entsprechen: „Da fehlen Warnhinweise oder Anleitungen in der Landessprache oder der Geruch beim Öffnen des Kartons lässt bereits vermuten, dass der Kinderwagen schadstoffbelastet ist.“ Oliver Beger ist als Patentgeber im Bereich Kinderwagen verpflichtet, Patentverletzungen nachzugehen und anwaltlich verfolgen zu lassen. Er muss dafür immer wieder Kinderwagen aus Fernost kaufen und prüfen. „Jedes Jahr werden viele Tausende Kinderwagen in die EU importiert die – rechtmäßig oder unerlaubt – unser Patent nutzen. Sicher sind es noch wesentlich mehr Kinderwagen, die keines unserer Patente nutzen und deren Zahl wir daher nicht kennen. Die Wagen werden über Plattformen wie Amazon, Alibaba, C-Discount und auch Temu importiert. Viele Importe laufen direkt vom Hersteller zum Endverbraucher.“
Auch Andreas Wüthrich, CEO DACH und Polen für die Artsana Group, setzt auf Qualität als beste Maßnahme gegen den Billig-Import: „Als Hersteller halten wir uns an alle Vorschriften, nicht nur, um sie einzuhalten, sondern auch, um die Verbraucher zu schützen, denn Sicherheit ist unsere Priorität. In der Tat führen wir die anspruchsvollsten Tests durch, einschließlich der Tests für Autokindersitze in unserem Crash-Labor.“
Ähnlich sieht das Dr. Alessandro Zanini, Commercial General Manager Europe bei der Avova GmbH, die zudem Lizenznehmer der Marke Recaro mit hochwertigen Autokindersitzen und Kinderwagen ist. Er sieht keine Konkurrenz durch asiatische Direktimporte: „Unsere Zielgruppe ist nicht nur wegen des hohen Qualitätsanspruchs, sondern auch wegen des ‚Made in Germany‘ und der besonderen Marke – vor allem bei Recaro – ziemlich entfernt von der Temu-Käufergruppe.“
Billig, billiger, tödlich
Online-Shopping über asiatische Plattformen erzielt nicht nur bei den Preisen einen neuen Tiefstand, sondern auch bei Qualität, Sicherheit und Umweltverträglichkeit von unkontrolliert importierten Kinderprodukten. Welche schwerwiegenden Konsequenzen das haben kann, deckte im vergangenen Jahr eine Studie der spanischen Allianz für Kinderverkehrssicherheit (AESVi) auf. Sie testete zehn Autokindersitze, die über Online-Plattformen und Herstellern auch aus Asien gekauft worden waren. Joan Forrellad, Generalsekretär der AESVi und Manager im Bereich Forschung, Entwicklung und Design bei der Jané Group, Hersteller von Autokindersitzen und Kinderwagen, beschreibt die erschreckenden Ergebnisse.
Herr Forrellad, was war die Ausgangssituation für die Studie der AESVi?
Der Direktimport von Produkten in den europäischen Markt vor allem durch
E-Commerce-Plattformen wächst stetig. Dadurch haben Verbraucher Zugang zu einer großen Produktvielfalt zu sehr günstigen Preisen. Die mangelnde Einhaltung europäischer Normen vor dem Hintergrund ungenügender Zollkontrollen können bei Produkten, deren Einfuhr sich den Regulierungsmechanismen entzieht, ein Risiko für die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher darstellen. Die OCU, eine spanische Verbraucherorganisation, warnte nach einer ersten Untersuchung, dass auf großen E-Commerce-Marktplätzen wie Aliexpress, eBay, Amazon, LightInTheBox oder Wish täglich Millionen von Produkten verkauft werden, die nicht den Sicherheitsvorschriften der EU entsprechen und somit ein ernstes Risiko für die Nutzer darstellen.
AESVI beschloss darauf, über Direktimport bestellte Autokindersitze in einem wissenschaftlichen Forschungsbericht zu analysieren. Dafür wurden zehn Sitze für verschiedene Altersgruppen nach dem Zufallsprinzip von den beliebtesten Online-Verkaufsplattformen gekauft, ohne dabei
Marken, Preise oder technische und rechtliche Konformitätskriterien zu berücksichtigen. Autokindersitze müssen in Europa sehr strenge Anforderungen erfüllen. Über Direktimport bestellte Sitze gelangen jedoch in den Handel, ohne dass diese Vorschriften eingehalten werden und ohne dass es irgendeine Form der Kontrolle gibt.
Zu welchen Ergebnissen kam Ihre Studie?
Die Sitze wurden verschiedenen Tests, unter anderen auch einem simulierten Frontalaufprall im spanischen Labor IDIADA unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass keiner der erworbenen Autokindersitze unter den geltenden Bedingungen der EU hätte zertifiziert werden dürfen. Bei den dynamischen Tests brachen Schnallen, lösten sich Gurte, die Dummies flogen aus dem Sitz. In einer realen Unfallsituation hätte dies zu schweren Verletzungen im Nackenbereich, im Bauch und Brustkorb eines Kindes geführt. Ein Sitz wurde mit ISOFIX-Vorrichtung beworben, war aber nicht mit ISOFIX-Bügeln ausgestattet. Ein anderer Sitz sollte mit einer Rückenlehne für Kinder bis 150 Zentimeter Körpergröße ausgestattet sein, konnte aber ab
105 Zentimeter nicht weiter verstellt werden. Ein Sitz war eine exakte Fälschung eines bekannten US-Modells, ein anderer hatte lediglich eine Gebrauchsanleitung in Mandarin. In 60 Prozent der Fälle fehlte die europäische Zulassungsnummer, in 70 Prozent der Fälle die gesetzlich vorgeschriebene Produktkennzeichnung. Keiner der Autokindersitze hatte eine Zollkontrolle durchlaufen und keiner erfüllte letztlich die Vorgaben der EU für Kinderrückhaltesysteme.
Welche Folgen haben die Ergebnisse der Studie? Haben Behörden oder Gesetzgeber reagiert? Sind Sie und die Hersteller damit an die Öffentlichkeit gegangen?
Zurzeit sind wir dabei, die Studie vorzustellen und zu veröffentlichen – in Madrid vor Fachmedien, im Dezember auf dem internationalen Forum „Protection of Children in Cars (POCC)“ in München, was auf großes Interesse stieß. Die Studie wurde auch auf dem Forum des Parlaments von Aragonien vorgestellt. Angesichts dieser schwerwiegenden und alarmierenden Ergebnisse kommen die Autoren dieser Studie zu dem Schluss, dass die internationale Zusammenarbeit bei der Überwachung und Durchsetzung von Normen unerlässlich ist. Darüber hinaus wird die Verwaltung dringend aufgefordert, die derzeitige Politik zur Kontrolle von Online-Direktimporten zu überprüfen, um den Erwerb gefährlicher Kinderrückhaltesysteme zu verhindern. Die gemeinsamen europäischen Verordnungen verfügen über Mechanismen, um den Zugang von unsicheren Nicht-EU-Produkten zu unserem Markt zu blockieren, aber es ist offensichtlich, dass sie nicht angewendet werden.