Branche – Blick nach vorne
Wo steht unsere Branche? Wie geht es der Industrie und dem Handel nach den ersten Monaten im Pandemie-Modus? Welche Anpassungen und Korrekturen hat es durch das Corona-Virus bislang gegeben? Und vor allem, wo geht es hin? Welche Trends und Entwicklungen zeichnen sich ab? Eine vielfältige Auskunft darauf gibt der Bundesverband Deutscher Kinderausstattungs-Hersteller e.V. (BDKH) zusammen mit seinen kooperierenden Handelsexperten.
Während einige Unternehmen keine Neuheiten oder neuen Kollektionen vorstellen, um den durch Corona strapazierten Handel nicht noch weiter zu belasten, laufen die Neuentwicklungen auch ohne Kölner Innovation Awards und die „Bühne“ der Kind + Jugend weiter.
Beim BDKH-Mitglied Artsana (Chicco) wird fleißig gearbeitet, weiß Christian Wolf, Kaufmännischer Direktor Deutschland & Österreich: „Wegen der Pandemie kann es sein, dass sich einige Neuentwicklungen zeitlich verschieben. Innovationen werden aber weiter die treibende Kraft am Markt sein und deswegen auch priorisiert.“ Als eine von drei Gewinnern einer BDKH-internen Verlosung wird die Artsana-Neuheit Next2Me Magic durch Stefan Eipeltauer und sein ARkid-Projekt (1st Steps hat dazu in Ausgabe 2 berichtet) in Augmented Reality dargestellt – und kann somit von B2B- und B2C-Kunden zur Begutachtung virtuell vorab und mit den korrekten Maßen „ins Wohnzimmer“ geholt werden. Eine Form der Darstellung, die mit zunehmender Online-Affinität der Kunden bald unverzichtbar sein wird.
Rückwärtsgerichtet
Von der Corona-Krise völlig unbeeindruckt verlief in der Jahresmitte der erfolgreiche Launch des Reboarders Axkid One aus Schweden. Der völlig neuartige Autokindersitz ermöglicht das sichere rückwärtige Sitzen von Geburt an bis zu einem Alter von sieben Jahren – und damit viele Jahre länger als bisherige Modelle es erlaubten. Friederike Gudehus, Geschäftsführerin der deutschen Axkid GmbH, berichtet von begeisterten Kunden und vollen Auftragsbüchern über Monate hinaus. „Der Sitz geht weg wie warme Semmeln.“
Klima contra Corona
Durch die Corona-Pandemie aktuell in der Aufmerksamkeit etwas in den Hintergrund gerückt, dennoch dringend wie nie zuvor, ist die Umsetzung von Maßnahmen für Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit durch produzierende Unternehmen. Der (Wickel-)Taschen-Spezialist Lässig arbeitet für seinen „Baum-Shopper“, hergestellt aus recycelten Plastikflaschen, mit der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald zusammen und pflanzt für jede verkaufte Tasche einen Baum in Deutschland – seit Projektbeginn mehr als 50.000 Bäume.
Für Nachhaltigkeut und Klimafreund-lichkeit steht Lässig unter anderem mit der Wickeltasche Tolltop Backpack
„Die Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Handeln mit Menschlichkeit, das ist möglich. Das leben wir mit unseren Produkten und mit unserer persönlichen Einstellung, mit dem Respekt gegenüber der Natur und der Umwelt“, sagt Claudia Lässig, Managing Director der Lässig GmbH. Bei der Wickeltasche Rolltop Backpack oder dem Green Label Ocean Shopper arbeitet das Familienunternehmen mit der Textilmarke Waste2Wear zusammen. Diese setzt sich dafür ein, in einer vollständig zertifizierten Wertschöpfungskette umweltfreundliche Stoffe aus gebrauchten, recycelten Plastikflaschen herzustellen. Zusätzlich sorgt Lässig durch die Unterstützung der gemeinnützigen Organisation HandsOn dafür, dass Abfälle an Stränden eingesammelt werden.
Nachhaltigkeitsstrategien
Der BDKH bietet in Zusammenarbeit mit der SGS Institut Fresenius GmbH im Herbst für seine Mitglieder einen Tages-Workshop zur Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie an. Die Verantwortung für zukünftige Generationen zu übernehmen und die entsprechenden Maßnahmen auf allen Ebenen zu implementieren, ist gerade in der Baby- und Kinderausstattungsbranche naheliegend. Nachhaltiger Konsum ist nicht zuletzt durch Corona mehr denn je ins Bewusstsein der Verbraucher gelangt und kann Unternehmen nicht nur neue Märkte eröffnen, sondern sie auch zukunftsfähig machen. Mehr Informationen zum BDKH-Workshop unter info@bdhk.eu.
Veränderungen im Vertrieb
Nachdem der persönliche Kontakt im Frühjahr stark reduziert war und häufig durch Videokonferenzen ersetzt wurde, relativiere sich der Trend nun wieder, so Christian Wolf von Artsana. „Viele Kunden möchten wieder besucht werden und bevorzugen den persönlichen Kontakt“. Die neue Videokommunikation werde jedoch bleiben. Eine Ausweitung der Vertriebsradien kann Wolf nicht feststellen. „Dazu ist es eventuell auch noch zu früh. Es bleibt abzuwarten, ob sich das Kaufverhalten der Konsumenten nachhaltig ändert. Durch die Pandemie wurde zumindest temporär der Trend zum Online-Kauf weiter verstärkt.“
Verlagerung der Vertriebskanäle
Auch Michael Neumann, Geschäftsführer des BDKH, sieht keine unmittelbare Ausweitung der Vertriebskanäle. „Der Möbelhandel war bereits vor Corona eine feste Größe beim Vertrieb von Babyausstattung und wird dies sicher bleiben. Was man feststellen kann, ist eine Verlagerung der Marktanteile innerhalb der Kanäle, hin zum Online-Handel auf Kosten der stationären Geschäfte. Corona hat einen bereits bestehenden Trend dramatisch beschleunigt. Das Verbraucherverhalten wird sich dauerhaft verändern. Aber dies ist eine Entwicklung, die wir auch in vielen anderen Branchen beobachten.“
Digitale Kanäle zum Kunden
Handelsexperte und BDKH-Referent Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer IFH Köln GmbH, beobachtet eine nachhaltige Veränderung beim Vertrieb. Mit dem Shutdown des Nonfood-Handels im März seien bisherige Vertriebsstrategien auf den Prüfstand gestellt worden. Wichtig seien neue Konzepte, um wettbewerbs- und zukunftsfähig zu sein und zu bleiben. „Zwei Entwicklungen sind evident“, so Dr. Hudetz: „Zum einen natürlich die Digitalisierung des Vertriebs. Digitale Kanäle hin zum Kunden sind angesichts von Covid-19 wichtiger denn je. Dies gilt für den eigenen Online-Shop, für diverse Social Media-Plattformen, für den Vertrieb über Plattformen von Amazon und eBay bis hin zu lokalen Online-Marktplätzen. Zum anderen war und ist eine größere Flexibilität, höhere Geschwindigkeit und ausgeprägtere Kooperationsbereitschaft gefragt.“ „Generell ist Flexibilität wichtiger geworden“, stimmt Dr. Alessandro Zanini, Vorstandsvorsitzender des BDKH und als Sales Director Central Europe bei Britax Römer Kindersicherheit, zu. „Größere Unternehmen waren auch schon vor Corona in mehreren Channels präsent. Dies hat sich mit der Pandemie nicht geändert, aber man hat gelernt, den Fokus flexibler zu gestalten.“
Doch wie sehen die Unternehmenskonjunkturen aus? Wie hat sich die Krise ausgewirkt – und wirkt sich derzeit noch aus? „Die Hersteller haben in der Zeit des Lockdown natürlich gelitten“, betont Michael Neumann. „Die Verlagerung hin zum E-Commerce konnte den stationären Umsatzverlust nicht wettmachen. Seit der Öffnung des Einzelhandels findet eine Erholung statt. Die Bedarfsdeckung funktioniert wieder. Was nun noch fehlt ist die Freude am Einkaufen. Insgesamt bleibt zu hoffen, dass sich die Maßnahmen des Konjunkturpakets positiv auf das Konsumklima auch in unserer Branche auswirken.“
„Insgesamt bleibt zu hoffen, dass sich die Maßnahmen des Konjunkturpakets positiv auf das Konsumklima auch in unserer Branche auswirken“ Michael Neumann, Geschäftsführer BDKH
Umsätze erholen sich
Christian Wolf sieht bereits eine „rasante Erholung“ bei den Umsätzen von Artsana in den vergangenen Wochen. „Durch Einsparungen konnten die reduzierten Umsätze größtenteils kompensiert werden. Zusätzlich versuchen wir die Auswirkungen der geringeren Produktion und der damit verbundenen Warenverknappung aus den letzten Wochen zu minimieren. Wir machen in unseren Produktionsstandorten zusätzliche Schichten und erhöhen das Personal, was vor dem Hintergrund von Kurzarbeit eine Herausforderung darstellt.“
Krisenfester Fachhandel
„Britax Römer hat im Bereich Kindersitze und Kinderwagen nach dem Lockdown bereits einen merklichen Aufschwung registriert“, berichtet Dr. Alessandro Zanini. „Die Zahlen haben sich erholt. Dank unterstützender Maßnahmen wie beispielsweise Kurzarbeit dürfte man vorerst mit einem ‚blauen Auge‘ davongekommen sein. Der Fachhandel – auch stationär – hat sich bewährt. Die mittelfristigen Auswirkungen sind aber auch in unserer Branche noch unbestimmt. Ein zweiter Lockdown hätte verheerende Folgen.“
Perspektiven und Erwartungen
„Wenn die Pandemie unter Kontrolle bleibt, erwarten wir für 2021 ein Wachstum“, so Zanini. „Wie groß dieses sein wird, hängt von den mittelfristigen Folgen in der Gesamtkonjunktur ab.“ Prognosen seien sehr schwierig und von zu vielen Faktoren abhängig. Auch BDKH-Geschäftsführer Michael Neumann setzt auf das kommende Jahr: „Unsere Mitglieder sind zuversichtlich, dass 2021 ein deutlich besseres Jahr wird als das jetzige.“ Allerdings seien Prognosen, ob und wie sich Corona auf hochpreisige Produktgruppen wie Kinderwagen, Möbel, Autositze auswirke und wie sich der Second-Hand Markt entwickle, schwierig.
Ungewisse Spätfolgen
Christian Wolf rechnet mit einer langsamen Erholung der Wirtschaft, warnt jedoch vor den Spätfolgen der Pandemie. „Man muss davon ausgehen, dass die größeren Auswirkungen auf das Konsumverhalten noch bevorstehen. Die tatsächlichen wirtschaftlichen Schäden durch Geschäftsschließungen, Arbeitslosigkeit, Exporteinbruch und mehr sind noch nicht abzusehen. Natürlich würden wir uns wünschen, dass schnellstmöglich ein Impfstoff oder Heilmittel zur Verfügung steht, aber vor Ende 2021 ist damit – wenn überhaupt – nicht zu rechnen. Vor diesem Hintergrund wird sich wohl das stationäre Kaufverhalten den Gegebenheiten anpassen und der Trend zum Online-Kauf ungebrochen sein.“
Gewinner und Verlierer
Dr. Kai Hudetz vom IFH Köln berichtet aus der Sicht des Handels: „Wir stellen aktuell eine Zweiteilung fest: Während viele Händler unter den aktuellen Rahmenbedingungen sehr leiden und massive Umsatzrückgänge zu verzeichnen haben, kommen andere Händler sehr gut durch die Krise. Die Gründe sind vielfältig: Sortimente, die eher zu den Gewinnern zählen, gute Standorte oder eine schnellere und bessere Umstellung von Marketing und Vertrieb bieten jetzt natürlich Vorteile. Wir stellen aber auch bei diesen Unternehmen eine weit verbreitete Unsicherheit fest. Aktuell kann niemand sicher prognostizieren, wie stark und wie nachhaltig die wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 tatsächlich ausfallen werden. Die meisten Händler agieren daher sehr vorsichtig, was Investitionen angeht, und versuchen, den Vertrieb weiter zu optimieren, insbesondere durch Digitalisierung.“
Die Neuentwicklungen laufen weiter trotz Corona. Der Reboarder Axkid One aus Schweden
Das Beistellbett Next2Me Magic von Chicco, dargestellt in Augmented Reality
Globalisierung
Durch die Pandemie seien alle Länder mehr oder weniger stark betroffen, eben auch Firmen mit Produktionsstandorten in Europa, die mit Lockdown, Kurzarbeit und ähnlichen Auswirkungen zurechtkommen mussten und müssen, so Christian Wolf. „Die Lage normalisiert sich aber schnell und in drei bis vier Wochen sollte alles wieder in geregelten Bahnen laufen. Von steigenden Produktionskosten gehen wir derzeit nicht aus.“
Michael Neumann denkt, dass „Lieferketten und Warenströme sich innerhalb kurzer Zeit wieder weitgehend normalisiert haben“. Immer vorausgesetzt, es treten keine neuen Infektionsgeschehen verbunden mit regionalen Lockdowns auf. „Die Produktionskosten werden wohl nur unwesentlich steigen, jedoch werden vermutlich die Frachtkosten ebenfalls nach oben gehen. Diese werden sicher nicht so niedrig bleiben, wenn der Welthandel wieder besser in Gang kommt. Bei gleichzeitigem Druck auf die Preise und Handelsmargen wird 2021 kein einfaches Jahr für die Hersteller.“
Erkenntnisse aus der Krise
„Ich glaube, wir alle haben gelernt, in welchem Ausmaß unsere Wirtschaft und unser Wohlstand mit der Globalisierung verknüpft sind. Und auch wie fragil dieses auf Gewinnmaximierung, Effizienz und ‚just-in-time‘ getrimmte Gebilde letztendlich ist. Sicher werden die allermeisten Unternehmen daraus Konsequenzen ziehen“, so das Resümee von Michael Neumann. Die Fragen, die sich Unternehmen nun stellen müssten seien unter anderem: „Müssen wir den Vertrieb neu denken? Wie erreiche ich meine Kunden auch in Zeiten von und nach Corona? Inwiefern ändert sich die Customer Journey unserer Zielgruppe, und habe ich die richtigen Antworten darauf? Wie arbeiten wir untereinander, etwa im Bereich Meetings und Geschäftsreisen?“
Das „neue Normal“
Methoden und Prozesse, die sich in der Krise bewährt haben, würden zum „neuen Normal“ werden, vieles jedoch wisse man heute einfach noch nicht, betont BDKH-Geschäftsführer Neumann. „Da tun sich für die Unternehmen nicht nur Herausforderungen und Hürden, sondern vor allem auch neue Chancen auf! Besonders beeindruckt hat mich, wie schnell in Unternehmen plötzlich Entscheidungen getroffen worden sind. Wer schnell und agil ist, wird sich einen Vorteil verschaffen gegenüber der Konkurrenz und seine Position stärken.“
Die Krise macht auch kreativ
Dr. Alessandro Zanini stimmt Neumann zu: „Flexibilität ist in jeder Hinsicht wichtiger geworden. Auf dem Markt, aber auch intern in unseren Firmen. Der flexible Einsatz von Home-Office hat sich als Vorteil erwiesen und ist auch ein Learning für die Zukunft. Genau wie eine geringere Reiseaktivität, gepaart mit Digitalisierung. Weniger Reisen bedeutet auch weniger Kosten und ein Plus für die Umwelt, auch wenn hier andere Unternehmen – etwa Fluggesellschaften – leiden und auch wieder ein konjunkturelles Problem anfeuern könnten. Der Handel ist jedenfalls einen wichtigen Schritt in Richtung ‚Multichannel‘ gegangen und dies ist definitiv auch etwas Positives, was die Krise mit sich gebracht hat. Krise macht manchmal auch stark und kreativ.“
Fokus auf „Made in Europe“
Man werde wieder mehr Prozesse wie etwa die Produktion nach Europa verlagern, um auch direkt darüber entscheiden zu können, berichtet Christian Wolf. „Aber: Es hat Jahrzehnte gedauert, die bestehenden Strukturen zu etablieren und zu optimieren. Diese jetzt vor dem Hintergrund einer globalen Krise zu ändern, wird Zeit in Anspruch nehmen. Dennoch gehen wir davon aus, dass ‚Made in Europe‘ wieder einen höheren Stellenwert bekommen wird. Wir denken auch darüber nach, den ‚Eigenvertrieb‘, etwa Web-Shop oder Drop Shipment zu stärken beziehungsweise aufzubauen, um etwas unabhängiger von globalen Entwicklungen zu werden.“ Doch viele dieser Vorhaben hingen auch vom Verbraucher und seinem Konsumverhalten ab. Ob er etwa bereit dazu sei, für Produkte einen höheren Preis zu bezahlen, wenn sie unter besseren Rahmenbedingungen hergestellt würden. Ob der Online-Trend sich weiter verstärke. Aber auch, ob es eine Renaissance des stationären Handels mit neuen Beratungskonzepten geben werde.
Schneller, besser und digitaler
Dr. Kai Hudetz ist davon überzeugt, dass man viel aus der Corona-Krise gelernt habe. „Auch die traditionellsten Händler haben erkannt, dass alle Händler digitale Wege hin zum Kunden finden müssen. Sehr viele kleine und mittelständische Einzelhändler haben während des Shutdown schnell und innovativ reagiert: Ich denke hier beispielsweise an Beratung per Video oder per WhatsApp sowie abendliche Auslieferungen der Bestellungen. Viele dieser Lösungen sind aber sehr aufwändig und schwer zu skalieren. Es geht nicht um Aktionismus, sondern um nachhaltige Antworten auf geändertes Konsumentenverhalten. Manche in der Branche tun sich schwer mit der Erkenntnis, dass es im stationären Einzelhandel nie wieder so sein wird wie vor Covid-19. Daran führt aber kein Weg vorbei. Nur wenn Händler noch schneller, besser und digitaler auf sich rasch verändernde Kundenbedürfnisse eingehen, werden sie erfolgreich sein können. Dabei geht es zumeist um eine ganzheitliche Betrachtung und umfassende Anpassung des Geschäftsmodells und der Prozesse.“