Brennpunkt: Deutschland, wandle dich!
Deutschland steht an der Schwelle zu einer neuen wirtschaftlichen Realität: weniger Erwerbstätige, mehr Ruheständler, sinkende Geburtenzahlen und eine Gesellschaft, die sich in ihrer Altersstruktur grundlegend verschiebt. Der demografische Wandel ist damit nicht nur ein gesellschaftliches, sondern vor allem ein ökonomisches Phänomen, das Geschäftsmodelle, Standortstrategien und Produktzyklen tiefgreifend verändert.
Ende 2024 lebten rund 83,6 Millionen Menschen in Deutschland, etwa ein Viertel davon über 65 Jahre alt. Der Altenquotient, also das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen, steigt seit Jahren stetig an und wird bis Mitte der 2030er-Jahre nochmals deutlich zulegen. Der Grund: Die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre erreichen das Rentenalter, während die nachfolgenden Generationen zahlenmäßig kleiner sind. 2023 kamen nur 693.000 Kinder zur Welt. Das ist die niedrigste Zahl seit der Wiedervereinigung. Migration bremst diesen Trend zwar ab, kann ihn aber nicht ausgleichen. 2023 lag der Zuwanderungsüberschuss bei rund 663.000 Menschen und damit deutlich weniger als im Jahr zuvor. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung in Deutschland bereits schrumpfen. Allerdings bringt Migration auch gesellschaftlichen Zündstoff mit sich, der vor allem politische Auswirkungen hat.

Arbeitskräftemangel als Wachstumsbremse
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Entwicklung sind gravierend. In den kommenden zehn Jahren wird das Erwerbspersonenpotenzial je nach Szenario um drei bis sieben Millionen Menschen sinken. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) warnt vor einem „Arbeitskräftedefizit mit Dominoeffekt“: Fehlende Fachkräfte führen zu Produktionsengpässen, verlängerten Lieferzeiten und Innovationsverzögerungen. Besonders betroffen sind Branchen mit hohem Personalbedarf, darunter Industrie, Pflege, Bildung, Handel und Handwerk. Für Unternehmen bedeutet das: Produktivität wird zur Schlüsselfrage. Investitionen in Automatisierung, Robotik und KI-gestützte Prozesse gelten nicht mehr als Zukunftsprojekte, sondern als Überlebensstrategie. Gleichzeitig wächst der Druck, ältere Beschäftigte durch flexible Arbeitszeitmodelle, Weiterbildung und ergonomisch optimierte Arbeitsplätze länger im Erwerbsleben zu halten.
Strukturveränderungen in Industrie und Handel
Eine alternde Bevölkerung verändert nicht nur, wer arbeitet, sondern auch, was produziert und verkauft wird. Gerade aus der Spielwarenbranche müssen sich Hersteller auf eine schrumpfende Zahl junger Familien einstellen, während die Nachfrage nach Gesundheits-, Sicherheits- und Komfortprodukten steigt. Andererseits entwickeln sich „Kidults“, also Erwachsene mit Affiniät zu vermeintlich kindlichen Interessen, zu einer neuen und vor allem kaufkräftigen Zielgruppe. Auch im Handel verschiebt sich der Fokus: Statt reinem Absatzwachstum rücken Kundenbindung, Servicequalität und regionale Präsenz stärker in den Mittelpunkt. Gleichzeitig verstärken sich regionale Disparitäten. Während Großstädte und wirtschaftsstarke Regionen weiter Zuwanderung verzeichnen, verlieren ländliche Gebiete junge Erwerbstätige und Kaufkraft. Das zwingt Industrie und Handel, ihre Standort- und Logistikstrategien neu zu denken, zum Beispiel durch dezentrale Produktionsmodelle, Online-Vertrieb und Kooperationen zur Versorgung alternder Regionen.
Innovationsdruck und Chancen
Wo Arbeitskräfte knapp werden, entstehen Anreize für technologische Innovation. Der demografische Wandel beschleunigt die Digitalisierung quer durch alle Sektoren: von KI-gestützter Fertigung über Smart-Logistik bis hin zu automatisierten Kundenservices. Besonders in Bereichen mit starkem Personalmangel, etwa in der Pflege, Bildung oder Verwaltung, könnten technologische Lösungen entscheidend zur Stabilisierung beitragen. Zugleich eröffnen sich neue Märkte, wie die sogenannte Silver Economy, also Wirtschaftszweige, die sich auf die Bedürfnisse älterer Menschen ausrichten. Sie reicht von altersgerechtem Wohnen über Medizintechnik bis zu Finanz- und Freizeitdienstleistungen. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass die Potenziale hier vor allem in der Entwicklung praktischer, funktionaler Innovationen liegt, die Lebensqualität und ganz besonders gesellschaftlichte Teilhabe sichern.

Politik und Unternehmen in der Pflicht
Die deutsche Bundesregierung setzt auf drei Hebel, um die Folgen der Alterung abzufedern: gezielte Fachkräftezuwanderung, höhere Erwerbsbeteiligung und gesteigerte Produktivität. Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll Verfahren vereinfachen, während Investitionen in Kinderbetreuung, Weiterbildung und flexible Arbeitszeitmodelle vor allem Frauen und ältere Beschäftigte stärker in den Arbeitsmarkt integrieren sollen. Unternehmen reagieren mit lebensphasenorientierten Personalstrategien, fördern Weiterbildung und investieren in Gesundheit am Arbeitsplatz. Parallel gewinnen „Corporate Demography Management“ und Nachfolgeregelungen in mittelständischen Betrieben an Bedeutung. Für den Handel wiederum rückt die Frage in den Vordergrund, wie eine schrumpfende Kundenzahl durch höhere Wertschöpfung pro Kunde ausgeglichen werden kann, sei es durch Service-Exzellenz, Individualisierung oder digitale Loyalitätsprogramme.
Kein Schicksal, sondern Gestaltungsraum
Letztendlich ist der demografische Wandel weit mehr als eine statistische Randnotiz, er ist ein wirtschaftlicher Strukturwandel, der alle Wertschöpfungsstufen betrifft. Die Spielwaren- und Konsumgüterbranche spürt ihn besonders früh, weil ihre Absatzbasis eng an die Geburtenentwicklung gekoppelt ist. Doch wer die Mechanismen versteht, kann Chancen nutzen: Automatisierung und Innovation sichern Wettbewerbsfähigkeit, neue Arbeitsmodelle schaffen Fachkräftebindung, und die Silver Economy eröffnet langfristige Wachstumsfelder jenseits traditioneller Zielgruppen.
Ob wir mit dem demografischen Wandel eine Art „Wirtschaftswunder 2.0“ erleben? Das hängt nicht allein am Konsumverhalten älterer Generationen, sondern auch an der Fähigkeit von Industrie, Handel und Politik, den demografischen Wandel als strategische Aufgabe und Gestaltungsraum zu begreifen.

Generation 50plus startet durch
Das nächste Wirtschaftswunder beginnt mit den 50ern, sagt Detlef Arnold, Mitgründer der Agentur G50Unleashed, und meint damit die Generation 50plus, die schon jetzt die kaufkräftigste aller Zielgruppen ist. Er geht davon aus, dass der demografische Wandel diesen Trend noch verstärken wird. In seinem Gastbeitrag erläutert er, weshalb diese Entwicklung auch für die Spielwarenbranche wichtig ist und warum es Zeit wird – spielerisch – erwachsen zu werden.
Die Zukunft der Spielwarenindustrie liegt nicht allein im Kinderzimmer, sondern im Wohnzimmer. Während die Kinderzahlen sinken, wächst die Generation 50plus zur ökonomischen Mehrheit heran. Wer sie versteht, gewinnt, denn sie verbindet Kaufkraft, Lebensfreude und den neuen Trend der Kidults.
G50plus ist die Mehrheit unserer Gesellschaft
In weniger als fünf Jahren wird jeder zweite Bundesbürger über 50 Jahre alt sein. Der Altersmedian liegt heute bei 46,8 Jahren. Im Jahr 2000 lag er noch bei 39 Jahren. Der demografische Wandel ist kein Zukunftsszenario, er ist längst Realität. (Bild1)
Die Geburtenentwicklung zeigt, wie tiefgreifend sich unsere Gesellschaft verändert hat. 1964 zählte Deutschland 1,46 Millionen Geburten bei 58 Millionen Einwohnern, eine Rate von 23,1 pro 1.000. 2024 waren es nur noch 677.000, also 8,1 pro 1.000. Das ist der niedrigste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Für 2025 wird ein weiterer Rückgang auf rund 640.000 Geburten prognostiziert. (Bild2)


G50plus ist das wirtschaftliche Rückgrat
Die Generation 50plus verantwortet rund 60 Prozent der privaten Kaufkraft und 56 Prozent der Konsumausgaben. Zum Vergleich: Die unter 30-Jährigen kommen auf rund neun Prozent. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen der über 50-Jährigen liegt rund 30 Prozent höher als das der jüngeren Zielgruppen. Sie hat ihr Eigentum abbezahlt, ihre Kinder großgezogen, ihre Karrieren gefestigt. Das verfügbare Einkommen wird bewusst eingesetzt – für Qualität, Erlebnisse und Marken, die Relevanz haben.
Das neue Spiel: Kidults als Wachstumstreiber
Während die Zahl der Kinder sinkt, kaufen Erwachsene immer mehr Spielwaren für sich selbst. Diese Kidults, bewusste Käufer von Spiel- und Sammelobjekten, treiben den Markt weit stärker an als die schrumpfende junge Zielgruppe. Nach Daten von Circana (2024) machen Erwachsene ab 18 Jahren bereits 28 bis 30 Prozent des europäischen Spielwarenumsatzes aus. Das entspricht rund 4,5 Milliarden Euro. Je nach Produktkategorie wächst dieses Segment um fünf bis 18 Prozent pro Jahr. In den USA machten Erwachsene ab 18 Jahren im ersten Quartal 2024 1,8 Milliarden US-Dollar Umsatz und legten gegenüber dem Vorjahr um zwölf Prozent zu – ein Trendsignal für europäische Märkte.
Das G50plus-Marketing-Paradoxon
In der Ansprache der Generation 50plus zeigt sich ein strukturelles Paradoxon, denn die größte, kaufkräftigste und einzig wachsende Konsumzielgruppe Deutschlands wird von Marketing und Werbung weitgehend ignoriert. Laut aktuellen Branchenanalysen fließen nur etwa fünf bis zehn Prozent der Budgets in diese Zielgruppe. Marketing fokussiert sich weiterhin auf junge Menschen, deren Konsumanteil vergleichsweise gering ist. (Bild 3)
Aber warum ist das so? Erstens: Das Klischee von konsumarmen, traditionsgebundenen älteren Menschen hält sich hartnäckig. Zweitens: Mediaplanung wurde jahrzehntelang auf Reichweiten in jungen Zielgruppen optimiert. Drittens: All eyes on Gen Z, ein Credo, das kaum noch hinterfragt wird.

Alter hat sich verändert. Werbung nicht.
Wer heute 50 Jahre alt ist, fühlt sich im Schnitt wie 40. Wer 60 ist, wie 50. Selbst viele 75-Jährige erleben sich subjektiv noch als 60. Diese gefühlte Verjüngung ist wissenschaftlich belegt. Laut einer Studie der Humboldt-Universität Berlin liegt das subjektive Alter im Durchschnitt rund elf Prozent unter dem tatsächlichen. Menschen, die sich jünger fühlen, leben aktiver, gesünder und zufriedener.
Doch die Werbung erzählt ein anderes Bild. Zwischen dem Senior im Treppenlift und der Super-Oma auf dem Skateboard bleibt wenig Platz für Wirklichkeit. Die britische Advertising Standards Authority stellte 2025 fest, dass 45 Prozent der über 55-Jährigen sich in der Werbung negativ stereotypisiert fühlen und mehr als die Hälfte sich als unterrepräsentiert empfindet.
Die Fachzeitschrift Page kommentierte treffend: Während die Älteren immer mehr werden und längst ein radikal verjüngtes Selbstbewusstsein entwickelt haben, ignoriert die Werbung sie oder hält an überholten Ruhestandsklischees fest.
Die neue Generation 50plus
Die qualitative Studie „50plus und Schluss“ von rheingold salon zeigt, wie stark sich das Selbstverständnis verändert hat. Menschen über 50 erleben sich als kompetent, selbstbestimmt und aktiv gestaltend. Sie befinden sich in einem Midlife High, aus Erfahrung und neuer Freiheit. (Bild 4) Diese Generation weiß, was ihr guttut. Sie entscheidet bewusster, konsumiert gezielter und erwartet Produkte, die Sinn, Qualität und Zugehörigkeit bieten, aber keine Anbiederung. Sie ist werbe- und markenaffin, will Kommunikation auf Augenhöhe, ohne Übertreibung oder Verklärung. Deshalb braucht es im Marketing einen Perspektivwechsel
- Marketing muss sich an Lebensphasen und Haltungen orientieren, nicht an Alterszahlen. Menschen ab 50 sind keineswegs automatisch gleich.
- Die Ansprache muss respektvoll, relevant und emotional sein, ohne in Verklärung oder Verjüngung zu verfallen.
- Marken müssen sich von der Jugendfixierung lösen. Nicht, weil Jugend unwichtig ist, sondern weil G50plus inzwischen die wirtschaftlich bedeutendere Gruppe darstellt.
- Es braucht mehr altersdiverse Teams. Nur so kann die kreative Perspektive breiter, realistischer und zukunftsorientierter werden.


Fazit
Die Spielwarenbranche kann von G50plus ganz besonders profitieren. Wer dieses Potenzial jetzt nutzt, erschließt sich neue Businesschancen, stärkt seine Zukunftsfähigkeit und kreiert so sein eigenes Wirtschaftswunder.
Detlef Arnold ist seit über 25 Jahren fest verankert in der deutschen Werbebranche. 2024 startete er mit Ende 50 nochmal durch und hat mit zwei Partnern die Marketingberatung G50Unleashed gegründet, die die Generation 50plus als Zielgruppe für Marketing und Werbung ins Visier nimmt.
