Ratgeber: Wenn Babys nicht zur Ruhe kommen
Babys schreien, das ist ganz normal. Aber was tun, wenn sie tage- und nächtelang schreien und nichts hilft? Ingrid Scherzer ist examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Integrationsfachkraft und vierfache Mutter und weiß aus eigener Erfahrung, wie gravierend sich exzessiv schreiende Babys auf Eltern und Familien auswirken können. In ihrem Gastbeitrag fasst sie ihre Erkenntnisse zusammen.
Wozu eine Babyschrei-Beraterin?
Ich bin examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, gesundheitsamtlich geprüfte Heilpraktikerin für Psychotherapie, Integrationsfachkraft für Kinder mit ADHS und Autismus – und Babyschrei-Beraterin aus Leidenschaft.
Ich bin vierfache Mutter und mit meinem ersten unruhigen Baby wurde mir bewusst, wie wenig Beachtung dieses Thema findet: Weder Hebamme noch Kinderarztpraxis, Jugendamt, Frühförderzentrum, Schlafberatung oder Osteopathie konnten damals wirklich umfassend und ganzheitlich helfen. Niemand sprach es klar an. Stattdessen bekam ich zu hören: „Das Kind hat Verspannungen!“ „Es muss lernen zu schlafen!“ Oder: „Es könnte hochsensibel sein!“ Diese Einschätzungen waren meist vage Vermutungen, sie waren nicht strukturiert und selten wissenschaftlich fundiert.
Auch meine eigene umfassende Ausbildung enthielt nichts wirklich Brauchbares zu Babys, die täglich stundenlang, über Wochen oder gar Monate hinweg schreien. Auf der Säuglingsstation während meiner Ausbildung erlebte ich, wie unruhige Babys den Schnuller bekamen – oft ohne Wirkung und mitunter störend für das Stillen – oder Müttern Tipps gegeben wurden, die mehr schadeten als halfen. Klassiker wie: „Entspannte Eltern, entspanntes Baby!“ „Lass es doch mal schreien!“ „Du springst eben immer gleich!“
Solche Sätze können für betroffene Familien ein Schlag ins Gesicht sein. Ja, elterliche Anspannung kann sich übertragen, doch nach meiner Erfahrung führt sie niemals allein zu exzessivem Schreien über Wochen und Monate. Genau hier setzt meine Arbeit an: Es geht um Säuglinge, die über einen längeren Zeitraum hinweg täglich stundenlang schreien, auch wenn ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind. Eltern berichten mir von bis zu 14 Stunden Schreidauer am Tag! Ein gesund entwickeltes, sattes und sauberes Baby mit diesem Verhalten stellt nicht nur Familien, sondern auch viele Fachpersonen vor große Herausforderungen. Häufig werden die Eltern mit Tropfen gegen Blähungen nach Hause geschickt, ohne zu klären, ob Blähungen tatsächlich die Ursache sind und ohne nach anderen Gründen zu suchen. Dabei kann das Schreien selbst durch Luftschlucken erst Blähungen auslösen.
Ich habe mir meine Fortbildungen weltweit mühsam zusammengesucht, Fachliteratur studiert und jahrelang ehrenamtlich mit betroffenen Familien gearbeitet. Ich wollte wissen: Was sind ihre größten Probleme? Wen haben sie schon um Hilfe gebeten? Wann wurde es besser? Ich traf Familien, deren Baby nach kleinen Alltagsänderungen deutlich entspannter war – und andere, die nach Fehldiagnosen mit schweren Folgen kämpfen mussten.
Wichtig zu wissen: Der Begriff „Schreibaby“ ist keine Diagnose, sondern beschreibt einen Zustand, der verschiedene Ursachen haben kann. Beispielsweise kann es sich um die sogenannten „Dreimonatskoliken“ handeln – ein veralteter Begriff, der Anpassungsschwierigkeiten in den ersten Lebenswochen meint. Hier helfen Beruhigungsreize, die dem Baby aus dem Mutterleib vertraut sind, wie Rauschen oder Begrenzung.
Zeigt das Kind jedoch dieselbe Symptomatik aufgrund von Schmerzen (etwa durch Verletzungen, Reflux oder orthopädische Probleme), kann der gut gemeinte Rat „einfach entspannt bleiben“ fatale Folgen haben. Denn dann braucht es eine gründliche medizinische Abklärung.
Mein Ziel ist es, das Phänomen „Schreibaby“ zu entmystifizieren. Die gängigen Begriffe „Schreibaby“, „High-Need-Baby“, „Kolik“ – beschreiben nur den äußeren Zustand, nicht die Ursachen. Eltern betroffener Kinder leben oft in höchster Not. Ohne schnelle, fachlich fundierte Hilfe können riskante Situationen entstehen. Studien zeigen: Babys, die exzessiv schreien, sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlung zu werden.* Auch eine frühe Fremdbetreuung ist keine automatische Lösung. Sie kann im Gegenteil eine Überforderung anderer Betreuungspersonen begünstigen.**
Mein Ansatz: Vier Säulen für mehr Ruhe
Meine Arbeit basiert auf vier Säulen: Abklären, Annehmen, Beruhigen und Begleiten.
- Abklären: Die häufigsten Ursachen lassen sich durch gezielte Diagnostik eingrenzen oder beheben – von Unverträglichkeiten über Stillprobleme bis hin zu orthopädischen Auffälligkeiten. Oft ist die Zusammenarbeit mehrerer Fachdisziplinen nötig. Beispiel: Ein Baby mit Zungenband-Problematik braucht nach einem Eingriff möglicherweise logopädische Betreuung und die Mutter Stillberatung.
- Annehmen: Hier geht es um die seelische Gesundheit der Familie. Scham, Übermüdung und das Gefühl, zu versagen, belasten Eltern stark. In extremen Fällen drohen Gewalt, Trennung oder Selbstverletzung. Entlastung kann auch im Alltag helfen: Essensabos, Haushaltshelfer oder vorbereitete Snackboxen für erschöpfte Eltern sind oft eine große Hilfe.
- Beruhigen & Begleiten: Neben Abklärung und Annahme brauchen Eltern konkrete Techniken, um ihr Baby zu beruhigen. Denn Nähe und Ruhe allein reichen oft nicht. Bewährt haben sich Reize, die Babys noch aus der Gebärmutter kennen: monotones Rauschen, sanfte rhythmische Bewegung, Dunkelheit, atmungsaktive Kleidung oder eine reizarme Umgebung. Wichtig: Eltern müssen diese Techniken praktisch gezeigt bekommen.
Unruhige, laute Babys und ihre Familien verdienen die bestmögliche Unterstützung von Fachkräften, die Ursachen erkennen, entlasten und konkrete Hilfe anbieten.
Angebot für Fachkräfte
Auf Basis meiner Berufserfahrung, jahrelanger Beratungstätigkeit mit betroffenen Eltern, Fortbildungen und studienbasierten Erkenntnissen habe ich eine Fachweiterbildung speziell für Fachkräfte konzipiert, die sich im täglichen Umgang mit jungen Familien befinden. Denn falsche Ratschläge, unbedachte Äußerungen und aus Unwissenheit unterlassene Weiterüberweisungen sollen nicht der Weg im Umgang mit exzessivem Säuglingsschreien sein. Zu meinem umfangreichen Handbuch (selbstverständlich mit Quellenangaben) gehören regelmäßige Livecalls mit mir und Vorlagen für die praktische Beratungstätigkeit (beispielsweise Besonderheiten in der Anamnese, Symptomübersichten mit den passenden Fachkräften, meine Erfahrungen im Umgang mit gefährdeten Familien und mehr). Ich freue mich über Fachpersonen, die ihre Expertise in diesem gesellschaftlich so unsichtbaren und doch so wichtigen Thema ausbauen möchten.